„Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, IX. These.1
Paul Klees Angelus novus im Blick Walter Benjamins: Als eine der bekanntesten Benjamin’schen Figuren ist der Engel der Geschichte ein Wesen, das auf das Fragmentarische und Zerstörte schaut. Als allegorische Figur erkennt er im Blick auf die Vergangenheit überhaupt erst, dass alles zerbrochen ist. Er würde es reparieren wollen – und scheitert, weil ihn der Sturm des Fortschritts von den eben erst gelesen Zeichen gleich wieder entfernt. Er scheitert auch, weil die Trümmer ohnehin Spuren von irreparablen Schäden sind. Und um aus dem Bewusstsein dieser Schäden heraus weitermachen zu können, müsste der Engel den Sturm des Fortschritts aufhalten können – erst dann kann aus der Vergangenheit eine Zukunft konstruiert werden. Aber er wendet ja der Zukunft den Rücken zu.2 Sehend in die Zukunft ,gereist‘ ist der Engel der Geschichte auf seine Art trotzdem – in unzähligen Texten, Bildern, Musikstücken, Filmen, die ausgehend von Benjamin auf ihn Bezug nehmen und mit ihm Überlegungen zur (Un-)Möglichkeit von Zukunftshoffnung anstellen.
Das Jahr 2025, das zu Ende geht, während ich diesen Beitrag schreibe, hat der Reise des Benjamin’schen Engels zwei bemerkenswerte Stationen hinzugefügt:
Von Mai bis Juli wurde Klees Angelus novus, der seit 1989 im Israel-Museum in Jerusalem zu sehen ist, im Berliner Bode-Museum gezeigt: Die Sonderausstellung Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende hat die Zeichnung in einer gemeinsamen Konstellation mit Manuskripten von Benjamin und Gershom Sholem zusammengeführt – ergänzt durch Ausschnitte aus Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin und Engelskulpturen aus den Berliner Museen, die während des Zweiten Weltkriegs beschädigt wurden. Sie bilden eine Berliner Serie von Engeln, die als zeichenmächtige und zugleich versehrte Figuren erscheinen.
Im Herbst 2025 ist George Didi-Hubermans Buch Les Anges de l’Histoire. Images des temps inquiets erschienen. Über seine Beschäftigung mit Engelfiguren und ihrer Aussagekraft in Bezug auf das menschliche Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat er bereits 2024 im Book Club von France Culture in der Reihe Dans la bibliothèque de… gesprochen.3 Sein Buch beginnt mit einem Blick auf biblische, kriegerische Engel eines apokalyptischen là-haut, eines ‚da oben‘. Ihnen gegenüber stehen Engel, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines ,hier unten‘, eines ici-bas, in Angriff nehmen. Sie sind vertraute und fremde Wesen zugleich, êtranges im Sinne Lacans,4 und befinden sich in der Kontinuität von Benjamin. Um aber der Geschichte erfolgreich gegenübertreten zu können, müssen diese Engel, so Didi-Huberman, die Fähigkeit eines anderen Blicks entwickeln: „Man muss den Blick verrücken.“5
Wie könnten sie aussehen, diese Engel mit dem anderen Blick? Wim Wenders’ Film-Engel gehören wohl ebenso zu ihnen wie die mit dem Angelus novus in Dialog gebrachten Skulpturen im Bode-Museum. Ihnen möchte ich zwei weitere Beispiele zur Seite stellen: John Akomfrahs afrofuturistischen Film The Last Angel of History (1996) und Cécile Wajsbrots Berlintexte L’Île aux musées (2008) und Berliner Ensemble (2015). Didi-Huberman sieht die anderen Engel als Reisende, stets im Aufbruch und in der Richtungsänderung begriffen: „Sie gehen ins Exil, sie kehren zurück, sie brechen neu auf in eine andere Richtung, sie verirren sich, sie zeigen uns einen Weg gegen allen Widerstand.“6 Sowohl bei Akomfrah als auch bei Wajsbrot sind die Engel ganz in diesem Sinne unterwegs und erfassen die Welt jenseits etablierter Ordnungen von Zeit und Raum. Und in beiden Fällen finden sie, wenn auch in ganz unterschiedlichen Kontexten, Spuren von nicht wieder gut zu machenden Verletzungen vor.
John Akomfrah, 1957 in Accra geboren und in London aufgewachsen, veröffentlicht 1995 seinen Film The Last Angel of History, in dem sich eine Science Fiction-Geschichte mit dokumentarischen Elementen zu einer Reflexion über einen afrofuturistischen Kampf gegen Unterdrückung verbindet. Der so genannte Datendieb, Protagonist des Films, reist per Computer zurück in der Zeit. Seine Aufgabe: die Bedeutung der Formel „Mothership Connection“ zu rekonstruieren. Immer neu ruft er auf seinem Bildschirm Archivaufnahmen auf, die u. a. Interviews mit Sun Ra, George Clinton, Greg Tate oder Octavia Butler zeigen. Darin erweist sich sein Parcours nicht nur als Zeitreise, sondern in der Kombination und Montage der Ausschnitte auch als Erstellung eines narrativ-filmischen Archivs. Etwa in der Mitte des 45-minütigen Films wird der Datendieb vom Off-Erzähler als titelgebender Engel identifiziert: „Der Dieb wird ein Engel, ein Engel der Geschichte. Der Datendieb kann die Alte Welt besuchen und auch die Neue, aber er kann keiner der Welten angehören.“7 Während der Erzähler das sagt, sind in extrem schneller Folge nicht nur der Datendieb und sein Computerbildschirm zu sehen, sondern insbesondere Bilder, die Ereignisse der Kolonialgeschichte in Afrika zeigen oder symbolisch dafür stehen (wie eine Weltkarte als Ort der kolonialen Aneignung und eine Art Reichsadler, der sich von oben auf die Karte legt). Um diese Bilder einordnen zu können, muss sich der Engel offensichtlich aus der Zugehörigkeit zu einer Zeit lösen. In seine Zukunft kann er nur zurückkehren, wenn er in die Vergangenheit geschaut hat.8
Cécile Wajsbrot ist 1954 in Paris geboren, als Tochter einer polnisch-jüdischen Familie und Enkelin eines in Auschwitz Ermordeten. Die Shoah und der Versuch, Stimmen zu erschreiben für diejenigen, die ihre verloren haben, prägen ihre Texte und ihr Verhältnis zu Berlin. In Berliner Ensemble (2015), einer Textsammlung, deren Struktur an Benjamins Denkbilder erinnert, schildert sie, wie der Mauerfall ihr einen neuen Zugang zur Stadt ermöglicht. Sie erwandert Berlin auf der Suche nach einer Statue, von der sie allerdings nur gehört hat: „ein Mann, der die Arme nach der Zukunft ausstreckt und dabei die Vergangenheit betrachtet. Noch ein angelus novus, noch eine Verkörperung des Engels der Geschichte.“9 Jedoch: Die Erzählerin findet die Statue nicht. Stattdessen schaut sie nach oben und entdeckt die Statuen, die auf den Dächern der Museumsinsel über die Stadt zu wachen scheinen, sozusagen flügellose Engel der Geschichte. Daraus entsteht die narrative Struktur des Romans L’Île aux musées (2008): Die Erzählstimme fällt dort dem Kollektiv der Statuen zu. Das Kollektiv kann die Welt jenseits von Raum-Zeit-Grenzen wahrnehmen, unbeachtet von menschlicher Aufmerksamkeit, und deshalb auch Traumata und Schäden des Menschseins anders betrachten: „Wir halten Wache, auch wenn niemand uns Beachtung schenkt – und vielleicht ist es auch einfacher, zu wachen, wenn niemand dabei zusieht. […] Ihr seid in der Gegenwart. Wir sind in der Allgegenwart.“10 Die Engel mit dem anderen Blick funktionieren hier nur in der Gemeinschaft. Der andere Blick richtet sich immer wieder auf konkrete historische Ereignisse: So erinnert sich das Kollektiv am Beispiel der Renaissance-Büste des Acellino Salvago an die Zerstörung von Kunstwerken in Berliner Bunkern während des Zweiten Weltkriegs: „Dieses stolze Marmorportrait wurde entstellt, unkenntlich gemacht wie die Opfer eure Atom- oder Napalmangriffe – wir haben gelernt, dass auch eine Marmorhaut verschwinden kann.“11 Auch Acellino Salvago ist auf seine Art ein Engel der Geschichte, ebenso wie die beschädigten Engel in der Ausstellung im Bode-Museum, die der Kurator Neville Rowley im Katalog beschreibt.12
Akomfrahs Datendieb und Wajsbrots Statuen wissen, dass sie das Zerschlagene nicht wieder zusammensetzen können. Wie der Unfertige Engel Paul Klees – die Zeichnung, die diesen Beitrag illustriert – sind sie Figuren des Fragmentarischen und des Unabgeschlossenen. Aber im Unfertigen liegt auch ein Potenzial zum Handeln. Indem sie sich immer wieder neu aufmachen, nach Wegen suchen, unterwegs sind, geben die Engel bei Akomfrah und Wajsbrot nicht auf – im Versuch, mit dem Zerschlagenen und gegen das Zerschlagen das Kommende mitzugestalten, bevor sie von ihm mitgerissen werden. Und sowohl der Film als auch die Texte weichen in der Konstruktion einer imaginären Zeit den konkreten Traumata nicht aus, die in ihrer Gegenwart entstehen und die aus der Vergangenheit in sie hineinragen. Darin unterscheiden sie sich von der Berliner Ausstellung, die eine der naheliegendsten Versehrungen der Gegenwart außen vor lässt und die Engel nicht zu Ende in das Jahr 2025 denkt: Dass die Ausstellung, die ein Gemälde aus Jerusalem nach Berlin holt und die außerdem Fotografien einer vom Krieg fast völlig zerstörten Stadt zeigt, den Rückblick auf das Kriegsende nicht parallel führt mit einem Blick auf Krieg und Zerstörung der Gegenwart im Gazastreifen, ist überraschend. Der Engel der Geschichte ist im Bode-Museum deshalb eine Figur, die nicht nur anders schaut, sondern die auch einen blinden Fleck hat.
1. Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I.2: Abhandlungen, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Suhrkamp, 1991), 691–794, hier 697–698.
2. Darin sieht Hannah Arendt die „letzte Verklärung“ des Flaneurs, weil auch er mit dem Rücken zur Menge steht und doch von ihr mitgerissen wird (Hannah Arendt, „Walter Benjamin – I. Der Bucklige“, Merkur 238 (Januar / Februar 1968): 50–65, https://www.merkur-zeitschrift.de/hannah-arendt-walter-benjamin-i/.
3. Georges Didi-Huberman, „Dans la bibliothèque de George Didi-Huberman“, Interview im Book Club bei France Culture, 3. Juli 2025, https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/le-book-club/dans-la-bibliotheque-de-georges-didi-huberman-8432288.
4. Vgl. Georges Didi-Hubermann, Les Anges de l’Histoire. Images des temps inquiets (Minuit, 2025), 111.
5. Ebd. 298, meine Übersetzung. Bereits an einer früheren Stelle des Buchs spricht Didi-Huberman von der Notwendigkeit eines „disjunkten Blicks“ (ebd., 287–288, meine Übersetzung).
6. Ebd., 298, meine Übersetzung. Das Aufzeigen eines Weges gegen jeden Widerstand schließt auch an die Thematik der CURE Summer School 2025 über die Dynamics of Despair an. Ihr Call zitiert als Referenzwerk auch Didi-Hubermans Survivance des lucioles, in dessen Nachfolge er Les Anges de l’Histoire stellt. Vgl. CURE: „CURE Summer School 2025“, Stand 16. Dezember 2025, https://cure.uni-saarland.de/forschung/summer-school/; vgl. Didi-Huberman, Les Anges de l’Histoire, 14.
7. John Akomfrah, The Last Angel of History, 1996, 00:26:53–00:27:06, meine Übersetzung.
8. Darauf bezieht sich auch Edward George, der für Akomfrahs Film recherchiert, das Drehbuch verfasst und in der Rolle des Datendiebs als Schauspieler darin mitgewirkt hat und 2021 in seinem Aufsatz auf die Arbeit am Film zurückblickt. Vgl. Edward George: „Last Angel of History. Research, Writing, Performance“, Third Text 35, no. 2 (2021), 205–226, https://doi.org/10.1080/09528822.2020.1867364.
9. Cécile Wajsbrot, Berliner Ensemble (La ville brûle, 2025), 17, meine Übersetzung.
10. Cécile Wajsbrot, L’Île aux musées (Denoël, 2008), 10–11, meine Übersetzung.
11. Ebd., 204, meine Übersetzung. Vgl. zu dieser Passage und der Büste als Objekt eines Kulturtransfers Patricia Oster, „Kunst als Medium des Kulturtransfers. Methodische Reflexionen am Beispiel von Cécile Wajsbrots Berlinromanen“, in Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, hrsg. von Hans-Jürgen Lüsebrink, Christiane Solte-Gresser und Manfred Schmeling (Steiner, 2013), 383–396, hier 392.
12. Neville Rowley, „Der Engel der Geschichte“, in Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende, hrsg. von Neville Rowley für die Staatlichen Museen zu Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, 2025), 8–23, hier 15–17.
HANNAH STEURER. “Engel der Geschichte, revisited”. The Reparation Blog, 17 December 2025. https://cure.uni-saarland.de/en/mediathek/blog/engel-der-geschichte-revisited/.