Einst war die geografische Karte ein Markenzeichen der modernen wissenschaftlichen Revolution und ein zentrales Instrument kolonialer Eroberung und Besetzung. Heute ist sie Gegenstand politischer Neuinterpretationen, die sie in eine Form der Fürsorge für bedrohte und fragile Welten verwandeln. Heutige Praktiken der Kartografie – oder Gegenkartografien – sind radikale Antworten auf die Zerstörung der Umwelt, (post)koloniale Unterdrückung oder strukturelle Gewalt. Ihre Pragmatik stellt die übliche Opposition zwischen der Darstellung einer einzigen, fixierten Welt und der Kultivierung multipler, beweglicher Welten, die zwangsläufig Pflege und Reparation benötigen, infrage. In ihrer gemeinschaftlichen Erarbeitung – im Austausch von Erfahrungen und Kompetenzen, der die modernistische Arbeitsteilung zwischen Expert:innen und Laien sowie zwischen Wissensproduktion und Erzählen aufhebt – eröffnen Gegenkartografien weitreichende Möglichkeiten, die Rolle kultureller Praktiken im Anthropozän neu zu definieren. Die Gegenkartografie bietet damit ein paradigmatisches Beispiel für die Wende von einer modernen kolonialen und umweltzerstörenden Praxis hin zu einer ökologischen Praxis der Fürsorge und Reparation. Ziel dieses Projekts ist es, die aktuellen Herausforderungen der Gegenkartografie zu konzeptualisieren, um zu einer Theorie beizutragen, wie kulturelle Praktiken auf Reparation ausgerichtet werden können.
DR. JULIEN PIERON
CURRICULUM VITAE
Julien Pieron ist seit September 2014 Forscher an der Universität Lüttich. Er ist Dozent in Metaphysik und Erkenntnistheorie und Co-Leiter des Masterstudiengangs für Analyse und Entwicklung kritischer Wissensformen. Er unterrichtet ein breites Spektrum von Studierenden – vom ersten Bachelorjahr bis zum letzten Masterjahr – und seine Studierendenschaft umfasst sowohl die Fakultät für Philosophie und Literatur als auch, bis 2024, die Fakultät für Naturwissenschaften. Seine Forschungsinteressen umfassen die Metaphysik der Zeit, Filmtheorie, feministische Erkenntnistheorie und das gegenwärtige Wiederaufleben des Pragmatismus und der spekulativen Philosophie.
