Am Rand Europas, im Zentrum der Méditerranée, hat die altehrwürdige Stadt Palermo einige Herrscher kommen und gehen sehen: Phönizier, Griechen und Römer, Araber, Normannen und Staufer, Spanier und Franzosen. Von hier aus betrachtet ist alles Gebaren der Mächtigen Vanitas. Selbst der alte Adel musste Garibaldi weichen (und vor welch berauschender Kulisse!). Vor einem solchen Horizont verbleichen die Kräfte der Geschichte von selbst und geben einer Wahrheit Raum, die in der Dauer liegt (darin erkannte Visconti ihre Schönheit). Ungewöhnlich ist es daher, dass diese Kräfte hier von Menschen explizit ausgestrichen werden, wie es einem Graffito widerfahren ist, das die New Yorker Freiheitsstatue in die Altstadt von Palermo geholt hat. Was bezweckten die klandestinen Kratzer mit ihrer Attacke? Sollten etwa Freiheits- und Gleichheitsideale, die Lady Liberty verkörpert, nicht mehr erwünscht sein? Wohl kaum. Eher zeigt die raue Leere im Zentrum des Bildes, dass die Form für ihren Gehalt nicht mehr stehen kann. Das mit der monumentalen Statue auf Liberty Island verbundene Freiheitsversprechen des Westens und der American Dream, den auch sizilianische Migranten im 20. Jahrhundert träumten, erscheinen leer und trügerisch. Die Lügen Trumps und seiner Techno-Kraten haben die Freiheitsidee ausgehöhlt. Als Erinnerung an den französischen Einsatz für die amerikanische Unabhängigkeit war Frédéric-Auguste Bartoldis ikonografische Statue als Geste Frankreichs Ende des 19. Jahrhunderts nach New York gelangt. Heute fordern sie einige französische Stimmen zurück. Für sie hat das Mammutmonument des republikanischen Universalismus keinen Platz mehr in einem Land, dessen Regierung sich planmäßig chaotisch an die Zerstörung der Zivilgesellschaft macht. Die Verachtung des Rechts, die Zerstörung der Universität und die generalisierte Lüge sind ihre schärfsten Waffen.
So ist die Wahrheit wieder das erste Opfer des Krieges; diese Lektion der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Wenn Gewalt nicht nur an den Konfliktlinien der Kriege und des Terrors geübt wird, sondern in die Poren der Gesellschaft einsickert und diese zu zersetzen droht, ist es umso dringlicher, die Lüge und ihre politischen wie medialen Zusammenhänge zu verstehen. Im Zentrum der Méditerranée verweist die Allegorie einer bedrohten Freiheit auf die Krise des politischen Westens als Idee und dominierende Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der institutionellen Fassung vereinter Nationen entwickelt worden war. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems 1989 sah sich dieser Westen als Sieger der Geschichte. Dabei übersah er, dass am Ende der Epoche des Universalismus auch die Vorherrschaft des Westens in einer neu zu bestimmenden Weltordnung brüchig geworden war. Nicht nur aus dem globalen Süden heraus wird seine Geltung infrage gestellt, nicht nur von China und Russland, die ihre machtpolitische und ideologische Position im 21. Jahrhundert zu festigen suchen, sondern wesentlich auch in den USA und in Europa. Im politischen Westen selbst ist neben der Krise sozialistischer und sozialdemokratischer Programme ein Niedergang des Konservatismus und des politischen Liberalismus zu verzeichnen. Es sei, so der Oberideologe des Neuen Staates, Steve Bannon, ganz einfach: Die regierenden Eliten hätten das Vertrauen in sich selbst, in ihre Länder und in den Nationalstaat verloren und sich von der Lebenserfahrung des »Volkes« entkoppelt. An ihre Stelle, so der vor unser aller Augen oenliegende Plan, soll in den technologischen und medialen Umwälzungen der Epoche ein neuer Faschismus rücken, dessen europäische Akteure von Le Pen über Meloni zu Farage und Wilders von Bannon nicht als Populisten charakterisiert, sondern als Rockstars gefeiert werden, gerne auch mit der Kettensäge in der Hand. Für die Kraft des besseren Arguments, auf das eine deliberative Demokratie in all ihrer Fragilität vertraut – auch wenn die Lüge stets Teil des Politischen ist – scheint es kaum mehr Spielraum zu geben. Trump, für Bannon eine McLuhanesque Figur, habe verstanden, dass die neue Macht die der neuen Medien sei. Bannon sieht sich selbst mit seiner Show War Room als Führer eines »military headquarter for a populist revolt«. Er steht in einem »spiritual war«, den er und Trumps Leute auch in Europa führen, um einer Bewegung zum Sieg zu verhelfen, in der sich eine »divine providence« Bahn breche. 1 Ihr Ziel ist das Ende der republikanischen Demokratie, an deren Stelle ein völkisch grundiertes, techno-autoritäres Regime gesetzt werden soll. Dieses formuliert das faschistische Erbe neu. Schmerzhaft lässt sich das in Curzio Malapartes Technik des Staatsstreichs von 1931 nachvollziehen, dessen Analyse geradezu gegenwärtig scheint: Sie zeigt das Kapern der Infrastrukturen und die Verallgemeinerung der Lüge als zentrale Momente der Machtergreifung Mussolinis. Der Rest ist Gewalt.
Die Wucht des Ressentiments in der conspirasphere der Spätmoderne ergibt sich, so argumentiert Oliver Precht in diesem Heft, nun nicht einfach aus der neuen Struktur der Öentlichkeit und aus den Lügen der politischen Influencer. Sie entsteht vielmehr aus den Inhalten und den Zurückweisungen unumgänglicher, menschheitlicher Herausforderungen: Wenn Alice Weidel als AfD-Vorsitzende in der Nachahmung Trumps gegen »Windmühlen der Schande« zu Felde zieht, kann Klimawandel endlich wieder als ein bloßes Naturphänomen beschrieben werden, das eben nicht menschengemacht sei. Die mit ihm verbundenen Gesellschaftskrisen erscheinen dann als rein soziale Phänomene, die durch Verschwörungen der Eliten – insbesondere der wissenschaftlichen! – und nicht wesentlich durch nachweisbare Transformationen der Bio- und Atmosphäre verursacht werden. Precht zeigt die fatale Kraft der Ressentiment-Pflege auf, die den Zweck hat, eine »Kränkung der Menschheit zu leugnen: die Erfahrung der Entgrenzung des eigenen Körpers, der eigenen Gesellschaft, der Kultur und der Natur«. Die vielen kleinen Influencer führen damit einen Abwehrkampf gegen die Wirklichkeit, für den Cervantes die Figur des Don Quijote erfunden hat. Die Akteure der wutgetränkten Verachtung der Demokratie schreien wieder eine Ermächtigung des »freien und romantischen Volkes« herbei, wie Gauland dies vor dem Brandenburger Tor getan hat, um in Wahrheit die Entmachtung selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger zu betreiben. Dem setzt dieses Heft die konsequente Analyse und eine Suche nach Wahrhaftigkeit entgegen, die ihren Platz wesentlich in den republikanischen Institutionen öentlicher Kultur und Kritik hat: in den Theatern und Verlagen, den Künsten und Museen, den Zeitungen und Radiosendungen, den öentlichen Foren und Universitäten. Was wir brauchen, ist auch eine Stärkung der republikanischen Bildung und ihrer institutionellen Vertreter, der Schulen und Lehrer:innen. Und eine unbedingte Universität. Über diese hat Jacques Derrida in einem Buch reflektiert, das heute in Konstellation mit seiner Geschichte der Lüge gelesen werden kann. Mit Isabel Capeloa Gil, der ersten Frau an der Spitze des Weltverbandes katholischer Universitäten, hat Rhinozeros darüber gesprochen. Capeloa Gil beschreibt die Abwehr der Reinheitsobsession, die sie als eine Lüge der portugiesischen Diktatur erachtet, um an die emanzipatorische und soziale Dimension Europas für Portugal nach der Nelken-Revolution zu erinnern. Heute sieht sie eine gesellschaftliche Aufgabe der Universität in der Schulung reflektierender Bürgerschaftlichkeit.
Die Suche nach einem Europa, das sich dem Ringen um Wahrheit verpflichtet fühlt, hat auch jenen Citoyens die Hände geführt, die sich in Palermo daran machten, uns allen die sinnentleerte Form der New Yorker Freiheitsstatue vor Augen zu führen. Rhinozeros fragt: Ist es nur ein Treppenwitz der Geschichte, dass diese nach dem Willen ihres Schöpfers ursprünglich als pharaonische Fackelträgerin bei Port Said hätte stehen sollen; hoch über der Einfahrt in den Suez-Kanal, in direkter Nähe zu Palermos Partnerstadt Khan Yunis, deren Bevölkerung Trumps »Gaza-Riviera« weichen soll? Ex oriente lux – war der politische Westen eine Fata Morgana?
Rhinozeros
→ Rhinozeros. Europa im Übergang 5 | lügen
1. David Brooks: My Unsettling Interview with Steve Bannon, in: The New York Times, 1. Juli 2024, https://www.nytimes.com/2024/07/01/opinion/stevebannon-trump.html
Rhinozeros: „Von der Freiheit: Editorial.“ In: Franck Hofmann, Markus Messling und Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): Rhinozeros: Europa im Übergang: lügen (Bd. 5). Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 8–11, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/von-der-freiheit-editorial-rhinozeros-5/.