Gedichte von Tammy Lai-Ming Ho.
Aus: Rhinozeros. Europa im Übergang 4 | wohnen
Simplicity Is Not an Option
Even the computer keyboard
overhears the never-ending sounds
of shouting. People
teach themselves and others
how to plant traffic cones.
Goggles wear young faces—
not swimming but rising.
They walk towards me in dreams,
on a landscape
of billowing acrid smoke.
Artificial fog everywhere:
Fog in residential areas,
fog in homes for the elderly.
Lived lives confront lives lived—
We were the same, but now
speak different dialects
of gear. In schools they don’t
teach the scenario
of running away
from being gassed.
9 August 2019
Unbefangenheit ist keine Option
Selbst die Computertastatur
hört mit, wie unablässig
geschrien wird. Menschen
bringen sich selbst und anderen bei,
wie man Leitkegel setzt.1
Schutzbrillen tragen junge Gesichter –
nicht beim Schwimmen, sondern beim Aufstehen.
Im Traum gehen sie auf mich zu,
in einer Landschaft
aus beißenden Rauchschwaden.
Künstlicher Nebel überall:
Nebel in Wohngebieten,
Nebel in Altersheimen.
Gelebtes Leben steht gegen ausgelebte Leben –
Wir waren gleich, aber jetzt
sprechen wir verschiedene Dialekte
der Ausrüstung. In der Schule
ist es kein Unterrichtsstoff:
Weglaufen
vor dem Gas.
9. August 2019
Licking Graffiti on Cement Walls
i.
The dream I had before waking up this morning:
A cat jumping up to the sky
and using her mouth to grab a bird
in flight. Both of them
fall to the ground, impaled
on nails. As they die,
they are panting, breathing out
feathers.
Their fierce eyes stare
at the immensity of brick structures
on Junction Road, Kowloon Tong,
standing like ancient dolmens.
ii.
In another dream
I am buying fishballs
from a streetfood shop
in Sham Shui Po. Suddenly
teargas smoke engulfs everything,
and even the pieces of food
want to wriggle free
from their skewers.
Two youngsters
walk towards me to offeer help.
In my dream, under their plain masks
are the faces of mere infants
forced into playing the role of
protesters.
iii.
In one dream
I am sitting
in an upturned 7-11 umbrella,
gliding in the sky, away
from toxic teargas smokes,
in a part of my city
that could be anywhere.
But the umbrella is pierced
by bullets and it plummets.
My blood on my inner thighs
stains the umbrella, as though
I am having a miscarriage.
My palms disappear
and I can’t reach my phone,
can’t raise my hand
to call for help. I think
of leaving behind a mental note
but I have no words.
iv.
I dreamt I was inside
a coffin
flowing in sewage.
I could see a flash light
that flickered &
stopped.
Then I was no longer
in the coffin but lying
naked on the ground
of the cavernous inner
courtyard of the Tuen Mun
public housing building
where I grew up.
I had become a ghost.
v.
In a dream I woke up from
after having intense pain
in my right calf,
everyone’s face is covered
with dripping blood. Some
are singing or praying,
but no sounds come out from their mouths.
Some have hands
that are no longer shaped
like hands. Some have broken
collarbones on which industrial face masks grow.
Some lose their sense of smell
and lick graffti on cement walls.
We have become a city of freaks.
Graffti an Betonwänden ablecken
i.
Mein Traum vor dem Aufwachen heute Morgen:
Eine Katze springt in den Himmel
und schnappt mit ihrem Maul einen Vogel
im Flug. Alle beide
stürzen zu Boden, wo sie von Nägeln
aufgespießt werden. Sterbend
ringen sie nach Luft, atmen
Federn aus.
Mit durchdringendem Blick starren sie
auf die Gewaltigkeit gemauerter Bauten
an der Junction Road in Kowloon Tong,
die wie urzeitliche Dolmen dastehen.
ii.
In einem anderen Traum
kaufe ich Fischbällchen
von einem Streetfood-Laden
in Sham Shui Po. Plötzlich
ist alles in Tränengas gehüllt,
und selbst die Essensstücke
wollen sich von ihren Spießen
winden.
Zwei Jugendliche
gehen auf mich zu, um mir zu helfen.
In meinem Traum sind unter ihren schlichten Masken
Gesichter von Kleinkindern,
die in diese Rolle gezwungen wurden:
Demonstranten sein.
iii.
In einem Traum
sitze ich
in einem umgedrehten 7-Eleven-Regenschirm,
schwebe im Himmel – fort
von den giftigen Tränengaswolken
in einem Teil meiner Stadt,
der überall sein könnte.
Aber der Schirm wird von Kugeln
durchlöchert und stürzt ab.
Das Blut zwischen meinen Oberschenkeln
hinterlässt Flecken auf dem Schirm, als hätte
ich eine Fehlgeburt.
Meine Handflächen verschwinden,
und ich kann nicht nach meinem Telefon greifen,
kann meine Hand nicht heben,
um Hilfe zu rufen. Ich überlege,
mir gedanklich eine Notiz zu machen
aber mir fehlen die Worte.
iv.
Ich habe geträumt, ich läge in
einem Sarg,
der im Abwasser trieb.
Ich konnte ein Blitzlicht sehen
das flackerte &
ausging.
Dann war ich nicht mehr
im Sarg, sondern lag
nackt auf dem Boden
des höhlenartigen Innen-
hofs der Sozialsiedlung
in Tuen Mun, in der
ich aufgewachsen bin.
Ich war zu einem Geist geworden.
v.
In einem Traum, von dem ich erwachte,
als meine rechte Wade
heftig schmerzte,
sind alle Gesichter
mit tropfendem Blut bedeckt. Einige
singen oder beten,
aber kein Laut kommt aus ihren Mündern.
Einige haben Hände,
die nicht mehr wie Hände
aussehen. Einige haben gebrochene
Schlüsselbeine, auf denen Einwegmasken wachsen.
Einige verlieren ihren Geruchssinn
und lecken Graffiti an Betonwänden ab.
Wir sind eine Stadt der Monstren geworden.
Rhinozeros. Europa im Übergang 4 | wohnen
1Anmerkung der Übersetzer: Während der Proteste in Hongkong entwickelten die Demonstrantinnen und Demonstranten eine Methode, um mit Hilfe von Verkehrshütchen die Tränengasgranaten der Polizei unschädlich zu machen.
Lai-Ming Ho, Tammy: „Are you Becoming Critically Endagered?“. In: Franck Hofmann, Markus Messling und Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): Rhinozeros: Europa im Übergang: wohnen (Bd. 4). Berlin: Matthes & Seitz, 2024, S. 92-99.