„Die Microstoria hat so nicht nur einen faktischen Abgleich des Lokalen mit dem tradierten Universellen und vorgeformter universaler Annahmen mit dem Lokalen vorgeführt, sondern vor allem die narrativen Prozesse hervorgehoben, mit denen dieses Verhältnis überhaupt konstruiert werden kann.“1 Mit diesen Worten beschreibt Markus Messling in der Einleitung zu seinem Buch Universalität nach dem Universalismus die Perspektive und die Bedeutung der Microstoria als Forschungsmethode, im Rückgriff insbesondere auf Carlo Ginzburg und Giovanni Levi. Messlings Bezug auf die Microstoria muss als Bestandteil eines umfassenderen Nachdenkens über Form und Funktion des Bezugs auf mögliche Vergangenheiten und Zukünfte gesehen werden und als Ausdruck einer tätigen Sorge um den Erhalt von bewahrenswerten Bestandteilen eines westlichen Universalismus’, vor dessen mörderischen Aspekten man zugleich nicht die Augen verschließen darf. Die Mikrogeschichten öffnen einen neuen Raum der Reflexion und des Handelns, der uns vor die Aufgabe stellt, Zukunft nicht nur neu zu denken, sondern auch den Modus zu befragen, in dem Zukunft in unserer heutigen beschädigten Welt noch möglich ist. In welcher Weise, fragt Souleymane Bachir Diagne im Vorwort zur französischen Übersetzung von Universalität nach dem Universalismus, könnte etwa die Nostalgie, wie bei Mathias Enard, als Ressource gelten, um eine weniger imperialistische Version der Zukunft Europas zu denken?2 Giovanni Levi hebt dagegen die eskapistische Dimension nostalgischen Vergangenheitsbezugs hervor: „Die Nostalgie ist meiner Meinung nach allem übergeordnet, sie ist der Ausdruck einer totalen Verwirrung, während man versucht zu begreifen, was Tag für Tag, von einem Tag auf den nächsten, geschieht.“3

Wie hängen die Ereignisse zusammen? Hängen die Ereignisse zusammen? Mit welchen „narrative[n] Prozesse[n]“ kann dieses Verhältnis überhaupt konstruiert werden? Im Sinne dieser kaum zu beantwortenden Fragen rekonstruiert der vorliegende Beitrag eine Microstoria davon, wie an einem einzigen, ganz bestimmten Tag ein Mikroereignis mehrere andere anstößt. Dann geht plötzlich alles sehr schnell, im Grunde simultan – und der Lauf der kleinen und großen Dinge in der Welt ist für immer verändert. Reisen wir 50 Jahre zurück in der Zeit.

Es ist Montag, der 8. Dezember 1975.

Wuppertal: Alles nimmt seinen Anfang in einem nordrhein-westfälischen Krankenhaus, wo an diesem Tag ein Kind geboren wird. Seine Eltern geben ihm den Namen Markus. Nur für den oberflächlichen Blick bleibt in der Stadt Friedrich Engels’, Rudolf Carnaps, Alice Schwarzers und Pina Bauschs die Lage an diesem Tag auffällig ruhig. Die Stadtchronik verzeichnet für diesen Tag lediglich die Eröffnung der neuen Kraftfahrzeugzulassungsstelle an der Uellendahler Straße.4 Ein welthistorischer Wink auf die künftig schwungvolle Mobilität des Kindes? Nostalgische Fußnote: Die KFZ-Zulassungsstelle existiert seit nunmehr elf Jahren nicht mehr.5

Rom: Nach einer langen Vertiefung in die Lektüre der deutschen Romantiker und einem Waldspaziergang brütet Papst Paul VI. in seiner vatikanischen Schreibstube über dem Text seines Dekrets Evangelii nuntiandi, in dem er sich Gedanken zur Verkündigung des Evangeliums macht. Die Wuppertaler Geburt führt dazu, dass er noch einmal das Markus-Evangelium zur Hand nimmt. Er liest, er überlegt, er trinkt einen weiteren Espresso und aus seiner idiosynkratischen Erfahrung mit dem Evangelientext heraus notiert er schließlich: „Die letzten Worte Jesu im Evangelium nach Markus geben der Evangelisierung, mit der der Herr die Apostel beauftragt, eine grenzenlose Universalität.“6 Sofort übergibt er das Dekret der Öffentlichkeit. Noch im Jahr 2023 wird Papst Franziskus es als Magna Charta der Evangelisierung zur Lektüre empfehlen.

Frankfurt am Main: Ein Richter des DFB-Sportgerichts blättert in der Zeitung, während er gedankenverloren ein Weihnachtsplätzchen aus einer Tupperdose isst. Gleich neben einem Bericht über die Darmstädter Gemeindestudie entdeckt er das Dekret Pauls VI. Das päpstliche Schreiben über die Verkündigung erinnert ihn daran, dass auch er an diesem Tag etwas zu verkünden hat: Otto Rehhagel, Trainer von Kickers Offenbach, wird wegen eines Disputs mit einem Schiedsrichter gesperrt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Seinem Verein erscheint das als irreparabler Schaden – Rehhagel wird entlassen. Aus dieser Verletzung der Trainerehre entsteht eine neue Zukunft: Rehhagel übernimmt einen anderen Trainerposten und später einige weitere. Dies wird u. a. zu einem Deutschen Meistertitel in der Saison des Aufstiegs und zu einer griechischen Europameister-Mannschaft führen.

London: Auch Großbritannien ist für seine Fußballleidenschaft bekannt. Die britischen Fußballfans verfolgen gespannt die Entscheidung des DFB-Sportgerichts. Dafür unterbrechen sie sogar das Studium des päpstlichen Dekrets. Sofort verkünden sie ihre Solidarität mit dem in Ungnade gefallenen Trainer: „He’s just a poor boy from a poor family. We will not let you go“ – so ihr Ruf nach Wiedergutmachung. Der Ruf ist zugleich auch eine Montage von zwei Textzeilen des Songs, der an diesem Tag bereits seit Wochen die britischen Charts anführt, dessen Bilder einem surrealistischen Kunstwerk entspringen könnten und der die Oper in die Rockmusik bringt: Queens Bohemian Rhapsody.

Zurück nach Wuppertal: Der Surrealismus hat auch Einzug in die Neugeborenenstation des Wuppertaler Krankenhauses gehalten. Über dem Bettchen, in dem das gerade geborene Baby schläft, hängt ein Druck von Salvador Dalís Radierung Der Einhorn-Laser zerstört die Hörner der kosmischen Nashörner.

Das Nashorn, die Oper, der Fußball, Rom und die Universalität – sie alle treffen an diesem 8. Dezember 1975 aufeinander. Und ohne es selbst zu ahnen, wird das Baby diese besondere Konstellation nutzen: Es macht diese Themen zu den seinen und durchdenkt mit ihnen die Welt.

Un très joyeux anniversaire à toi, lieber Markus!

Deine Wissenschafts-Kolleginnen und -Kollegen des Käte Hamburger Kolleg CURE


1. Markus Messling: Universalität nach dem Universalismus. Über frankophone Literaturen der Gegenwart. Berlin: Matthes & Seitz, 2019, 33.
2. Markus Messling: L’Universel après l’universalisme. Des littératures francophones du contemporain. Paris: PUF, 2023, 13–14.
3. Rhinozeros: „,Die anderen sind nicht da, und das ist schrecklich…‘. Gespräch mit Giovanni Levi.“ Rhinozeros 3 (2023), träumen, 188–209, hier 208.
4. Hinrich Heyken: 85 Jahre Wuppertal. Stadtchronik 1929-2014. 2014, 76. Abgerufen am 3. Dezember 2025, http://stadtgeschichte-wuppertal.de.
5. Die Westdeutsche Zeitung kommentiert diesen Vorgang so lapidar wie treffend: „Nun ist sie weg: Dort, wo die Wuppertaler früher so viel Zeit verbracht haben, um ihr Auto oder ihr Motorrad anzumelden, steht kein Stein mehr auf dem anderen“, Westdeutsche Zeitung vom 21. Februar 2014. Abgerufen am 3. Dezember 2025, https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/die-alte-zulassungsstelle-ist-weg-vielleicht-kommt-ein-neues-autohaus_aid-29666865 .
6. Papst Paul VI.: Evangelii nuntiandi. Apostolisches Schreiben seiner Heiligkeit Papst Pauls VI. an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der katholischen Kirche über die Evangelisierung in der Welt von heute. Rom, 8. Dezember 1975. Abgerufen am 3. Dezember 2025, https://www.vatican.va/content/paul-vi/de/apost_exhortations/documents/hf_p-vi_exh_19751208_evangelii-nuntiandi.html.


KHK Research team: „Un caso di microstoria.“ The Reparation Blog, 8. Dezember 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/un-caso-di-microstoria/.