Aufarbeitung ist ein Wort, das nach dem Zweiten Weltkrieg groß in Mode gekommen und auch noch heute in aller Munde ist. Es gibt Aufarbeitungskommissionen für den Umgang mit sexuellem Missbrauch, mit kolonialem Unrecht und mit anderen Formen von vergangenem Unrecht. Ganz offenkundig gehört es zu den Zielen der mit „Aufarbeitung“ benannten Aktivitäten, etwas dazu beizutragen, begangenes Unrecht zu benennen, zu mildern, ökonomische oder juristische Gerechtigkeit einzufordern. Ob dies mit Aufarbeitung gelingt, ist eine sehr komplexe Frage. Kritiker:innen weisen auf die Einmaligkeit hin, die Anstrengungen zur Aufarbeitung nicht selten prägt und auf den Mangel an dauerhafteren Formen der Auseinandersetzung. Ziel der sogenannten „Aufarbeitung“ sei eben nicht die tatsächliche Auseinandersetzung, sondern die Erledigung schmerzender Wunden. Befürworter:innen setzen sich für genau diese dauerhafteren Formen der Auseinandersetzung ein. Dieser Text wird nur auf einen aus den Reihen der Kritiker:innen zu sprechen kommen:
Im Herbst 1959 hielt der Frankfurter Soziologe Theodor W. Adorno vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit einen Vortrag mit dem Titel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“. Der Vortrag wurde dann im Jahr 1960 im Hessischen Rundfunk gesendet. Er ist ein zentraler Beitrag zur Frage, wie die Erinnerung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgehen sollte. Adorno brandmarkte in seinem Text, dass die Bundesrepublik und ihre Bürger:innen sich nicht hinreichend mit ihrer Vergangenheit befasst hatten.
Adorno begann seinen Vortrag aus dem Jahr 1959 mit einem Paukenschlag: Nicht die antidemokratischen Kräfte seien das, was die Demokratie bedrohe, sondern das Weiterleben des Faschismus in den demokratischen Strukturen selber. Dass der Faschismus weiterleben konnte, wurde durch eine fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit gewährleistet. Die geschehene sogenannte „Aufarbeitung der Vergangenheit“ sei dagegen nur ein Vorwand, sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. In seinem Vortrag warf Adorno der deutschen Kultur der Auseinandersetzung mit den Weltkriegen, sowohl dem Ersten als auch dem Zweiten Weltkrieg, vor, dass zwar die Kriegsverhältnisse formal beendet worden seien. Allerdings hätten sich die Menschen innerlich, psychisch nicht mit dem auseinandergesetzt, was geschehen sei und so bleibe die Vergangenheit zu weiten Teilen eben nicht bewältigt. Das sei die eigentliche große Gefahr für die bundesrepublikanische Demokratie, nicht die offen antidemokratischen Kräfte, die immerhin deutlich als solche zu erkennen waren.
Adorno wollte es jedoch nicht dabei belassen, die Probleme lediglich zu benennen, sondern auch erklären, wie es zu ihnen gekommen war. Einen Schlüssel bot dabei der Begriff des „autoritären Charakters“. Dieser Begriff hatte schon in Texten eine wichtige Rolle gespielt, die Adorno gemeinsam mit Horkheimer zuvor verfasst hatte. Der autoritäre Charakter leidet nach Adorno eigentlich an einer Schwäche, und zwar einer Schwäche des „Ich“. Den Begriff des „Ich“ entnimmt Adorno hier seiner Lektüre von Sigmund Freud. Im Wesentlichen möchte er sagen, dass eine ich-schwache im Gegensatz zu einer ich-starken Persönlichkeit dazu neige, sich mit größeren, stärkeren und umfassenderen Kollektiven zu identifzieren, anstatt eigene Maßstäbe zu entwickeln. Die Stärke des Kollektivs kompensiert dann die Schwäche des Ich. Genau ein solches Angebot für ich-schwache Persönlichkeiten hatten aber die Nationalsozialisten im Gepäck. Sie boten den Menschen an, sich mit der „Volksgemeinschaft“ zu identifizieren. Auf der psychischen Seite stand damit ein Angebot bereit, das auf der materiellen Seite durch Freizeitaktiviäten der „Kraft durch Freude“ und einem Sozialprogramm ergänzt wurde.
Genau diese Identifikation mit einem großen Kollektiv und die damit einhergehende Befriedigung ist nach Adorno nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes im Jahr 1945 nicht aufgearbeitet worden. Ein Hinweis darauf war nach Adorno, dass es überhaupt keine panischen Reaktionen auf den Zusammenbruch gegeben hatte. Diese wären aber eigentlich zu erwarten gewesen, wenn das Regime wirklich, also auch psychisch, „aufgearbeitet“ worden wäre. Eine naheliegende Erklärung war für Adorno, dass die Identifikation mit dem „Volkskörper“ eben nicht vorbei sei, sondern noch fortlebe. Er war der Meinung, dass diese Identifikation in der Weise fortlebe, dass das schwache Ich die Realität stets so deute, dass sie mit den eigenen Wünschen übereinstimme. Die Folge war nach Adorno, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten heruntergespielt oder mit eigenen Kriegsschäden verglichen wurden, die angeblich kaum geringer seien. Die Bombardierung Dresdens werde so vorgebracht, um darauf hinzuweisen, dass man auch selber viel gelitten habe. Adorno drückt diese Tendenz des Ich, Schädigungen abzuwenden, so aus: „Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung anzuschließen, dass der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, dass jene Schädigung ungeschehen gemacht wird.“
Eine Lösung des Problems erkennt Adorno in einer besseren politischen und historischen Bildung der Menschen, weshalb er eine aufgeklärte „Erziehung der Erzieher“ verlangte. Inspiriert von US-amerikanischen Wissensformen, die er im Exil kennengelernt hatte, verlangte Adorno nach sozialwissenschaftlich fundierten pädagogischen Methoden. Insbesondere legte er den Erziehern Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) als Lektüre ans Herz.
Adorno führte den Begriff des Reparierens an einer Stelle in seinem Text ein, als es sich nicht um die Reparatur der durch den Zweiten Weltkrieg Geschädigten handelte, sondern um die Instandsetzung des geschädigten Narzissmus der Täter. Der Begriff wird nicht als terminus technicus eingeführt, sondern eher im Vorbeigehen. Es lässt sich vermuten, dass die Tätigkeit des Reparierens in Adornos Augen die konstante Arbeit daran meinte, die Zumutungen der Realität zu verleugnen, damit das schwache Ich der nationalsozialistischen Täter nicht mit ihr umgehen mussten. Reparieren wäre in dieser Interpretation eine Ersatzhandlung, die davon abhielte, das zu tun, was wirklich am Platz wäre, nämlich: sich mit der Realität auseinandersetzen; Sigmund Freud hätte dies möglicherweise mit dem Wort „Durcharbeiten“ bezeichnet. In seinem Text „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ aus dem Jahr 1914 identifizierte Freud die Übertragung des inneren Konflikts auf den Psychoanalytiker als das Hauptmittel der Psychoanalyse. Diese Übertragung gestatte es dem Analytiker, der/dem Patient:in die Gelegenheit zu geben, den Konflikt in einem kontrollierten Raum zum Austrag zu bringen. Was dabei geschieht benennt Freud mit den Worten „Arbeit“ und „Durcharbeiten“ und er meinte, dass sie die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hätten. Es muss wohl angenommen werden, dass Adorno sich eine ähnliche Form des Durcharbeitens auch für die Aufarbeitung der durch den Zweiten Weltkrieg bewirkten psychischen Schädigungen unter den Deutschen erhofft hatte und nun enttäuscht war, weil sich die Deutschen mit Deckerinnerungen und faden Ausreden begnügten.
Sehr relevant ist die Konzentration auf die beschädigten Deutschen, unter denen sich nach 1945 kaum ein Nazi finden ließ, sosehr man danach suchte. Sie erinnert an das acht Jahre nach Adornos Vortrag erschienene Die Unfähigkeit zu trauern von Margarete und Alexander Mitscherlich. Auch die Mitscherlichs wiesen wie Adorno auf die Notwendigkeit hin, einen offenen Diskurs über die beschädigten Psychen der Nationalsozialist:innen gewesenen Deutschen zu entfalten, über die Beschädigungen ihrer libidinösen Vorstellungen.
Am Schluss seines Vortrags meinte Adorno: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“
In diesem Sinn von „Aufarbeitung“ ist sie eine kulturelle Praxis der Reparation, aber es muss darauf geachtet werden, dass es auch wirklich dieses Wortverständnis ist, dem diejenigen sich verpflichtet fühlen, die sich mit dem schwierigen und, wenn wohlverstanden, wichtigen Projekt der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ befassen.
Verwendete Ausgabe:
Theodor W. Adorno. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1963 [1959], S. 125–146.
Sonstige zitierte Texte:
Freud, Sigmund. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1921.
Freud, Sigmund. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In ders., Schriften zur Behandlungstechnik
(= Studienausgabe, Ergänzungsband). Frankfurt am Main: Fischer, 1975 [1914], S. 205–215.
Mitscherlich, Margarete, und Alexander Mitscherlich. Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München/Berlin/Zürich: Piper, 2015.