• Forschung
  • Forschungsprojekte

Erfahrungspoetik der Seuche

Die Erfahrung einer Seuche hinterlässt Verletzungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Weil sie sich durch Ansteckung und gesellschaftliche Affizierung definiert, wirkt sich – anders als etwa bei einem Unfall – die Versehrung auf zwei Ebenen aus: als Infektion mit dem Erreger und als gesellschaftliche Infektion, in der die Seuche Dynamiken des (un)menschlichen Handelns in Bewegung setzt. In meinem Projekt zur Erfahrungspoetik der Seuche untersuche ich, wie literarische Texte im Dialog mit faktualen Dokumenten der Erfahrung einer an sich irreparablen Seuchenbeschädigung ein narratives Potential des Neuentwurfs entgegenstellen

Reparation und Genesung werden in einer Doppelperspektive beleuchtet: Den physischen Narben der Infektion entsprechen psychisch-gesellschaftliche Versehrungen, die in den Texten als erzählte Narben sichtbar gehalten werden. Fundiert wird das Projekt von der Figur der Ansteckung – einerseits im Blick auf literarische Inszenierungen von infrastrukturellen Praktiken der Reparation im Sinne von Infektionsbekämpfung und Ansteckungsvermeidung, andererseits im Blick auf die Überlagerung epidemischer und gesellschaftlicher Ansteckungsdynamiken. In der Bestimmung der Position, aus der die Erfahrung entsteht, interessiert mich i die Relation fiktionaler Seuchentexte zu faktualen Seuchenberichten (Chroniken, Akten, Tagebücher oder Blogs) und die Frage, wie diese die ästhetischen Verfahren der Erzählung beeinflussen. Ebenso geht es mir um die Erfahrungsräume der Seuche. Dazu zählen auf einer topographischen Ebene Gegensätze von Stadt und Land ebenso wie die Räume, an denen die Erkrankung erlebt wird (Privatwohnungen, Krankenhäuser, Arztpraxen), und der öffentliche Raum als Ort der möglichen Ansteckung und der Sozialdynamiken. Auch der Körper wird zum Raum der Verletzung – sowohl aus der Ich-Perspektive erkrankter Erzählstimmen als auch in der Beschreibung des erkrankten Körpers von außen. Und schließlich soll die Innenwelt von Erzähler:innen und Protagonist:innen als Erfahrungs- und Verarbeitungsraum der Seuche in den Blick treten. Die Erfahrungsräume der Seuche können, so meine These, zum Konstruktionsraum von Zukünften werden, die in unterschiedlichen Formen der Mehrstimmigkeit – innerhalb der Texte und in der intertextuellen Reaktion der Texte auf einander – entworfen werden. Die große Pest im Europa des 14. Jahrhunderts und die Epidemien wie Pandemien des 21. Jahrhunderts: Zwischen diesen Eckpunkten Seuchenerfahrung bewegt sich das Korpus des Projekts. Insbesondere das Erzählen als Strategie gegen die von der Seuche freigelegte Unmenschlichkeit, die Form der Seuchen-Enquête sowie Diskurse zur epidemischen Erfahrung als Metapher sollen als Paradigmen gesetzt werden, die grundlegend für die Aktualisierung der Seuchenpoetik und ihre Reparationsfunktion im 21. Jahrhundert sind.

DR. HANNAH STEURER
CURRICULUM VITAE

Hannah Steurer ist wissenschaftliche Programmleiterin für den Bereich Erfahrung am Käte Hamburger Kolleg CURE und forscht dort insbesondere zur Erfahrungspoetik der Seuche. Außerdem interessiert sie sich u. a. für Schreibweisen der Stadt, Dingkulturen und Traumästhetiken, vor allem in der französischen und italienischen Literatur. Sie hat Romanistik und Germanistik studiert und wurde 2020 promoviert (Thema der Arbeit: Tableaux de Berlin: Französische Blicke auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, ausgezeichnet mit dem Dr. Eduard-Martin-Preis). Nach ihrer Promotion war Hannah Steurer als Postdoktorandin im DFG-Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ tätig. 2022 wurde sie in das Exzellenzprogramm für Wissenschaftlerinnen der Universität des Saarlandes aufgenommen.

KONTAKT
hannah.steurer@khk.uni-saarland.de

© KHK CURE