Lässt sich das Träumen als eine kulturelle Praxis der Reparation verstehen? Der Traum ist zweifellos eine anthropologische Konstante; eine biologisch-psychische Tätigkeit, die sich zu allen Zeiten und überall auf der Welt vollzieht. Inwiefern diese Tätigkeit bereits als reparativ gelten kann, wird in den vielen Bereichen, die sich mit dem Traum als Forschungsgegenstand beschäftigen, seit langem diskutiert – und in weiten Teilen bejaht: Bereits in der Antike sind Träume für Aelius Aristides konkrete Anleitungen zur Heilung seiner gesundheitlichen Probleme.1 Heute kann das Träumen als ein „kreatives Durchspielen von Möglichkeiten“ angesehen werden, wie dies etwa der empirische Traumforscher Michael Schredl tut.2 Träume dienen der Lösungsfindung, zur Verarbeitung von Erfahrungen oder als Mechanismus, um das Gehirn oder die Seele gesund zu halten.3
Vor allem aber ist es der Umgang mit dem Geträumten, bei dem sich die Frage der Reparation stellt: das Erinnern, Aufschreiben, Erzählen und Teilen von Träumen als eine Jahrtausende alte, transkulturelle Praxis. Selbst unter Extrembedingungen wie in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ist es weit verbreitet. Dies zeigen etwa die autobiografischen Traumtexte von Primo Levi, Robert Antelme, Elie Wiesel, Jorge Semprún oder Charlotte Delbo.4
Der Shoah-Überlebende Jean Cayrol hat sich bereits als Inhaftierter systematisch mit dem Mitteilen von Träumen im Lager beschäftigt. Er hebt besonders die gemeinschaftsstiftende Funktion des Träumens in Mauthausen hervor. Nach Kriegsende erstellt er eine Typologie von Shoah-Träumen: von Träumen der Verhaftung über Lagerträume bis hin zu den Alpträumen der Zurückgekehrten. Eine eigene Kategorie bilden onirische Erfahrungen, die er als Heilungsträume bzw. wohltuende Träume bezeichnet.5 Ihre heilende Kraft schöpfen sie ihmzufolge aus der Abstraktion und Reduktion: aus Szenen ohne Handlung oder Figuren, die etwa leere Landschaften, bloße Farben oder geometrische Figuren darstellen.
Die Praxis, Träume aktiv zu erinnern und im Gespräch durchzuarbeiten, ist bekanntermaßen seit Beginn des 20. Jahrhunderts Grundlage der Psychoanalyse. Von Freuds Traumdeutung über C.G. Jung und Jacques Lacan bis hin zu aktuellen Ansätzen der Psychotherapie: Das Sprechen über Träume ist seitdem aus der therapeutischen Praxis nicht mehr wegzudenken.6 Zwei unterschiedliche Therapiezugänge aus der Zeit der Jahrtausendwende, die sich mit den traumatischen Folgen der Shoah beschäftigen, machen dies besonders deutlich: Der US-amerikanische Traumforscher Ernest Hartmann sammelt Tausende Alpträume schwer traumatisierter Menschen, um Möglichkeiten der Heilung zu untersuchen.7 Ziel ist, dass die Patient:innen lernen, ihre wiederkehrenden Träume gewissermaßen umzuerzählen. So sollen sie die erfahrenen Beschädigungen schrittweise verarbeiten. Hartmann unterscheidet Alpträume, die sich erzählend verändern lassen, von solchen, die aufgrund von schweren Traumafolgestörungen keinerlei Veränderung erfahren. Und genau dies ist ihm zufolge häufig bei Träumen von Shoah-Überlebenden der Fall, die das traumatische Ereignis stets von Neuem wiederholen. Sie sind also in besonderem Maße mit dem Problem des Irreparablen konfrontiert.
Die Psychoanalytikerin Marie-Odile Godard wiederum untersucht in Rêves et traumatismes. Ou la longue nuit des rescapés unzählige Träume von Überlebenden der Shoah, des Genozids in Ruanda und des Algerienkriegs.8 Ihr Fokus richtet sich auf die vergleichbaren Strukturen, Motive und Funktionen berichteter Alpträume in Zeiten politischen Terrors. Sie gelangt zu dem paradoxen Schluss, dass Träume eine entscheidende Bewältigungsstrategie für die Auseinandersetzung mit irreparablen Erfahrungen sind. Das entscheidende reparative Potenzial liegt Godard zufolge in der erzählenden Mitteilung des Geträumten an ein empathisches Gegenüber, das das Gesagte affektiv bezeugt. Denn hier wird für einen Moment die traumatische Einkapselung des beschädigten Selbst überwunden.9
In welchem Verhältnis stehen solche Reparationspraktiken zu materiellen Versuchen der Reparation? Die Reparationspolitik der Shoah, die in Deutschland 1952 mit dem Wiedergutmachungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel einsetzt und durch das ein Jahr später ratifizierte Bundesentschädigungsgesetz fortgeführt wird, stand von Anfang an im Zeichen der Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung.10 Dass juristische und finanzielle Reparationsleistungen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwar zwingend nötig, jedoch niemals ausreichend sein können,11 verweist umso dringlicher auf die unhintergehbare Bedeutung kultureller Praktiken der Reparation: auf kulturelle Praktiken nämlich, die gerade die Irreparabilität von Ereignissen und Erfahrungen anerkennen. Der Roman La réparation von Colombe Schneck, in dem Alpträume auch der nachfolgenden Generationen von Shoah-Überlebenden eine wichtige Rolle spielen,12 führt eindringlich vor Augen, inwiefern finanzielle und juristische Reparationsakte mit den irreparablen Erfahrungen einzelner Individuen kaum vermittelbar sind.
In diesem Sinne ist weniger das Träumen selbst, sondern vielmehr die diskursive und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geträumten eine bedeutsame Kulturpraxis. Worin genau besteht deren reparative Kraft? Am Beispiel der Shoah zeigt sich: Aus der Notwendigkeit des Sprechens über die nationalsozialistische Massenvernichtung und der gleichzeitigen Sprachlosigkeit angesichts der Gräueltaten ergibt sich eine Aporie, die sich oftmals im Traumerleben äußert und auf diese Weise als paradoxe Erfahrung mitgeteilt werden kann – zumal die eigentlichen Opfer des Genozids selbst von ihren Erfahrungen nicht mehr zeugen können, aber in den Träumen der Überlebenden häufig als Figuren der Zeugenschaft auftauchen. Fast alle Erzähler:innen von Shoah-Träumen machen eine solche Konfrontation mit dem Irreparablen zum Thema: Die Traumtexte fassen eine traumatisierte Wahrnehmung der Wirklichkeit – Eindrücke des Irrealen, Unfassbaren, Widersprüchlichen, Ambivalenten, Verzerrten – in authentisch anmutende Traumbilder und geben Erfahrungen eine Sprache, die die Unsagbarkeit des historischen Ereignisses selbst vor Augen führt.
Die Traumerzählung erweist sich damit als ein produktives Verfahren für die Auseinandersetzung mit dem Irreparablen: In Träumen und ihrer narrativen Vermittlung werden die eigene Sprachlosigkeit, zerstörte Traditionen, gekappte Beziehungen, das unmögliche Sprechen für die Ermordeten, die erfahrende Ohnmacht und eine oftmals schwer beschädigte Subjektivität reparativ bearbeitet.13
Christiane Solte-Gresser
1. Aelius Aristides: Heilige Berichte. Heidelberg: Winter, 1986. Vgl. dazu Christiane Solte-Gresser: Die Welt der Träume. Eine Reise durch alle Zeiten und Kulturen. Darmstadt: wbg, 2023, 55–59.
2. Michael Schredl: „Das Kino der Nacht“. Psychologie heute 37 (2014), 15.
3. Vgl. u.a. Ulrich Moser und Vera Hortig: Mikrowelt Traum. Affektregulierung und Reflexion, Frankfurt am Main: Brandes und Apsel, 2019.
4. Vgl. Christiane Solte-Gresser: Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren. Paderborn: Brill, 2021.
5. Jean Cayrol: Lazare parmi nous. Neuchâtel: La Baconnière,1950, 15–66, hier 39–40.
6. Zur wissensgeschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Shoah, Psychoanalyse und Traumatherapie vgl. Solte-Gresser: Shoah-Träume, 11–49.
7. Ernest Hartmann: Dreams and Nightmares. The Origins and Meanings of Dreams. Cambridge: Perseus, 2001.
8. Marie-Odile Godard: Rêves et traumatismes. Ou la longue nuit des rescapés. Toulouse: Érès, 2003.
9. Godard: Rêves, 12–14 und 217–222.
10. Vgl. Dan Diner und Gotthart Wunberg: Restitution and Memory. Material Restoration in Europe. New York, Oxford: Berghahn, 2007.
11. So argumentieren etwa Hans Günter Hockerts, Claudia Moisel und Tobias Winstel (Hrsg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000. Göttingen: Wallstein, 2006.
12. Colombe Schneck: La réparation. Paris: J’ai lu, 2012, bes. 19, 57, 76 und 93.
13. Vgl. hierzu ausführlicher Christiane Solte-Gresser: Traum und Reparation. Erzählte Shoah-Träume. Berlin: Matthes & Seitz (in Vorbereitung).
Christiane Solte-Gresser: „Traum.“ Reparieren. Glossar kultureller Praktiken der Reparation, 15. Juli 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/glossar/traum/.