Es entspinnen sich immer intensivere Diskussionen um die Frage, ob der Mensch nicht nur metaphysisch, sondern ganz direkt und physisch in näherer Zukunft aufhören wird zu existieren, und zwar aufgrund der Entwicklung neuer Technologien im Bereich Computertechnik, Nanotechnologie und Robotik. Hierzu gab es im Jahr 2000 eine breite Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an der führende amerikanische und deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle teilnahmen.
Stein des Anstoßes war ein Text, den Bill Joy (Informatiker, Mitentwickler der Programmiersprache JAVA sowie des Betriebssystems UNIX, zu dieser Zeit Chief Scientistbei Sun Microsystems, kurz: ein zentraler Akteur des Silicon Valley) im Magazin Wired veröffentlicht hatte und den die FAZ auf Deutsch übersetzte unter dem Titel: „Warum die Zukunft uns nicht braucht. Die mächtigsten Technologien des 21. Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie – machen den Menschen zur gefährdeten Art.1
Joy bezog sich in seinem Text auf ein Buch Ray Kurzweils, The Age of Spiritual Machines (1999). In diesem Buch goss Kurzweil seine – in der Zwischenzeit in mehreren anderen Texten wiederholte – Technikutopie in Worte und prophezeite, dass die quälende Mangelhaftigkeit des Menschen schon sehr bald, in der Lebenszeit vieler heutiger Menschen, auf einer neuen, durch technologische Entwicklungen ermöglichten Entwicklungsstufe aufgehoben würde. Als Joy Kurzweils Buch las und mit anderen darüber diskutierte, fürchtete er jedoch eher unabsehbare und für Menschen desaströse Konsequenzen, die durch technische Eingriffe in hochkomplexe Systeme erwachsen können. Wie viele andere, die sich nicht nur in der FAZ in diese Debatte einmischten, äußerte Joy Skepsis zu den aus seiner Sicht besorgniserregend gestiegenen Möglichkeiten der Menschen:
Die Verbindung dieser Computerleistung mit den manipulativen Fortschritten der Physik und dem vertieften genetischen Wissen wird gewaltige Veränderungen ermöglichen. Wir werden die Welt vollkommen neu gestalten können, im Guten wie im Schlechten. […] [D]a wir nun schon in dreißig Jahren mit einer dem Menschen vergleichbaren Computerleistung rechnen können, drängt sich mir ein anderer Gedanke auf: dass ich mich möglicherweise an der Entwicklung von Instrumenten beteilige, aus denen einmal die Technologie hervorgehen könnte, die unsere Spezies verdrängen wird.2
Anders als Kurzweil, der das Zukunftsszenario der Verschmelzung von Mensch und Roboter als eine Utopie erzählt, meinte Joy, dass es wahrscheinlicher sei, „dass auf diesem Wege das Menschsein verloren gehen wird“.3
Joy erinnerte mit eindringlichen Worten an die Fehler, die Wissenschaftler:innen und Politiker:innen beim Bau der ersten Atombombe gemacht hatten: Bestimmte Forschungen sollten aus diesen Erwägungen heraus nicht durchgeführt werden.
Mit Blick auf die Entwicklung der Atombombe und der ersten computing machines hatte Günther Anders bereits im Jahr 1956 auf ein neues Verhältnis von Menschen und Maschinen hingewiesen, nämlich das, was er als „prometheische Scham“ bezeichnet hat, nämlich die Scham, die wir ob der Unzulänglichkeit des Menschen im Angesicht seiner Geräte empfinden.4 In seinem Text Die Atomare Drohung (1981) schrieb Anders:
Denn worauf wir abzielen, ist ja stets, etwas zu erzeugen, was unsere Gegenwart und Hilfe entbehren und ohne uns klaglos funktionieren könnte – und das heißt ja nichts anders als Geräte, durch deren Funktionieren wir uns überflüssig machen, wir uns ausschalten, wir uns liquidieren. Daß dieser Zielzustand immer nur approximativ erreicht wird, das ist gleichgültig. Was zählt, ist die Tendenz. Und deren Parole heißt eben: ohne uns.5
Als reparaturbedürftig erschien Anders nicht nur der Mensch selbst, sondern das Bewusstsein des In-der-Welt-seins, das durch die von immer mächtigerer und immer ubiquitärerer Technologie sich verändere, die in der Tendenz den Menschen und die Idee des Menschseins liquidiere.
In der Debatte über Joys Mahnung, vorsichtiger mit den neuen technologischen Möglichkeiten umzugehen, spielten Anders’ Erwägungen zum Bedeutungsverlust des Menschen keine Rolle. Die Reaktionen bewegten sich auf einem Spektrum von beschwichtigendem Realismus („Hier scheint mir die Lust an einfallsreicher Science-fiction doch ein wenig zu stürmisch über die biologische Realität hinausgeschossen zu sein“6), einer Kritik an den neuen ökonomischen Formen des zweiten Kapitalismus7 bis hin zu Optimismus.8
Wenn man sich zurückerinnert, wer es eigentlich war, der Zukunftsvisionen für technische Szenarien entwarf, so waren das häufig Schriftsteller:innen, Philosoph:innen. Heute, so erinnerte der Mitherausgeber der FAZ Frank Schirrmacher, zögen sich viele Kulturschaffende mit dem Hinweis auf ihre Macht- und Ideenlosigkeit aus dem Geschäft zurück, literarische, künstlerische und mediale Szenerien zu entwerfen. Wissenschaft zu erzählen, so meinte Schirrmacher mit Verweis auf Friedrich Dürrenmatt, helfe jedoch dabei, sie zu einer ethischen Angelegenheit zu machen.9 Eine Kultur für diese Ethik der Wissenschaft zu entwerfen solle man nicht lediglich den Wissenschaftler:innen überlassen, sondern einem breiteren Feld der Kultur: „Das sogenannte Phantastische, das uns und unseren Nachgeborenen blüht, muß denkbar, ableitbar aus dem Gegenwärtigen sein, kurzum: Kunst und Literatur sind selber Agenten der Evolution.“10
Möglicherweise ist es auf die zunehmende Professionalisierung und Auseinanderentwicklung der regionalen Soziolekte im Wissenschaftsdiskurs zurückzuführen, dass auch schon Schirrmacher zu Recht die befremdliche Abwesenheit eines kritischen Kommentars auf die letztlich sozialen Zukunftshoffnungen und -ängste konstatieren musste. So meinte er, dass wir – womit er den Sektor der kritischen Kulturschaffenden meinte – uns mit genau diesen Vorstellungen befassen müssten:
Und wer auch nur im Vorübergehen die Presseerklärungen aus dem Silicon Valley oder aus Maryland liest, erkennt, daß wir längst in ein Zeitalter der neuen sozialen Utopien eingetreten sind. Was uns aufgegeben ist, lautet: sozial verstehbar zu machen, was sich wissenschaftlich vorbereitet.
Mit diesen Worten umriss Schirrmacher eine kulturelle Praxis, die – mit Blick auf die möglichen oder zu befürchtenden Zerstörungen, Veränderungen und Eingriffen von Technik und Wissenschaft ins Leben der Menschen – Welten entwerfen könnte, die reparative Szenarien denkbar machen. Seine Mahnung, die Zukunft eines beschädigten Menschseins nicht lediglich den Wissenschaftler:innen, Ingenieur:innen und Programmierer:innen zu überlassen, erscheint heute dringlicher denn je.
Laurens Schlicht
1. FAZ, 6. Juni 2000.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck, 2002 [1956], 23.
5. Anders, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. München: Beck, 1981, 199. Neuausgabe von: Endzeit und Zeitenende (1972).
6. Hubert Markl, FAZ, 13. Januar 2001.
7. Jaron Lanier, FAZ, 12. Juli 2000.
8. Ray Kurzweil, FAZ, 17. Juni 2000.
9. FAZ, 6. November 2000.
10. Ebd.
Schlicht, Laurens: „Ohne uns oder mit uns? Vierundzwanzig Jahre nach Bill Joys Pamphlet zur Zukunft der Menschen.“ The Reparation Blog, 20. Januar 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/ohne-uns-oder-mit-uns-vierundzwanzig-jahre-nach-bill-joys-pamphlet-zur-zukunft-der-menschen/.