Der Augenblick des (geographischen) Aufbruchs1, des Losgehens, an dem man einen Ort in Richtung eines anderen verlässt, prägt menschliche Erzählungen seit der Antike. Im 21. Jahrhundert geht er in einen neuen Aktualitätszusammenhang ein, insbesondere angesichts von Erfahrungen der Gewalt und Verletzung – Flucht vor Krieg und politischer Verfolgung, ökologische Katastrophen, individuelle Traumata. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern der Aufbruch zum Schlüsselmoment einer Auseinandersetzung mit der Irreparabilität des Erlebten werden kann und wie kulturelle Bearbeitungen des Aufbruchs als reparative Denkräume funktionieren: Wie gehen Erzählungen des Aufbruchs in Literatur, Film, Theaterstücken usw. im Blick auf die Zukunft mit Irreparabilität um?
Für die reparative Dimension des Aufbruchs ist insbesondere sein Chronotopos2 von Bedeutung und zwar insofern, als der Aufbruch eine räumlich-zeitliche Schwelle markiert: Der Ortswechsel resultiert aus den Erfahrungen einer (traumatischen) Vergangenheit und ist notwendigerweise in eine Zukunft orientiert – die dort liegt, wohin der Aufbruch führt. Wie der Aufbruch die Zukunft aus der Vergangenheit heraus gestaltet, hängt wesentlich mit seiner Freiwilligkeit und mit der (politischen) Handlungsfähigkeit des aufbrechenden Subjekts zusammen: Das Losziehen kann sich als Aufbruch in der Ohnmacht erweisen, insbesondere, wenn Menschen zur Flucht gezwungen sind und aus dem Zurücklassen des bisherigen Lebens eine neue Verletzung entsteht. Betroffen ist davon auch die Reiseroute, deren Verlauf oder Ziel von äußeren Zwängen, Gewalt und Verfolgung bestimmt wird. Erzählungen über solche Formen des Aufbruchs können zur Selbstermächtigung und Rückeroberung von Handlungsmacht über eine Situation werden, in der die Freiheit menschlicher Entscheidung eingeschränkt ist. Paradigmatisch sichtbar wird das darin liegende reparative Potenzial in Une magie ordinaire (2023), dem autobiographischen Roman des französisch-togolesischen Autors Kossi Efoui: „Va vivre ailleurs et ne reviens plus dans ce pays“3, sind die Worte der Mutter, die angesichts politischer Repression den Sohn zum Aufbruch aus seinem Heimatland auffordert. Als Fluchtrichtung nennt sie ein unbestimmtes ailleurs und formuliert im gleichen Satz die Unmöglichkeit der Rückkehr. Sprache und Schreiben werden für Efoui zur Strategie, eine Zukunft aus der Erfahrung des Irreparablen von individueller und kollektiver kolonialer Gewalt zu gestalten – eine Erfahrung, die im Roman als „choses dures“4 benannt wird. Der erzwungene Aufbruch erweist sich als Möglichkeit zur Konstruktion eines Denkraums, in dem malgré la violence eine Zukunft entworfen wird, Verletzungen nicht reproduzieren, sondern verhindern soll. Aus dem Aufbruch entsteht ein Programm für das, was kommen soll.
Demgegenüber kann der Aufbruch als Flucht aber ebenso jegliche Eroberung von Freiheit verunmöglichen und Gewalterfahrungen fortführen bzw. verstärken. Das geschieht z. B., wenn Personen ein vermeintlich sicheres Ziel erreichen, dort aber aus Gründen von Traumatisierung, fehlender Orientierung oder Unterstützung scheitern – so der Protagonist in Rachid Boudjedras Roman Topographie idéale pour une agression caractérisée (1975), der am Zeichensystem von Paris in sprachlicher, kultureller und politischer Hinsicht zugrunde geht.5 Das Phänomen des Aufbruchs in die erneute Gewalt betrifft insbesondere die Fälle, in denen Aufbrechen bedeutet, dass Personen verschleppt oder getötet werden – und soverschwinden.6 Der reparative Beitrag von Erzählungen des Aufbruchs kann dann darin liegen, dass die Stimme und die Erfahrungen derjenigen les- und hörbar werden, die nicht (mehr) selbst sprechen können, so im Fall von Erzählungen über die desparecidos in Lateinamerikaoder über die Opfer der Shoah7 und anderer Genozide.
Schauplätze von Narrationen des Aufbruchs können einerseits die Orte sein, an denen Erfahrungen von Gewalt gemacht werden und eine Flucht auslösen; andererseits ergeben sich die Schauplätze aus den Dispositiven und Infrastrukturen des Aufbrechens und Verschwindens. In besonderer Weise wird der Aufbruch als Reaktion auf oder als Erfahrung von Verletzung in Erzählungen verhandelt, die Fortbewegungsmittel (Schiffe oder Autos ebenso wie eine Bewegung zu Fuß) in den Blick nehmen oder an paradigmatischen Orten des Neustarts, des Untertauchens, Festgehaltenwerdens und Entkommens spielen. Dazu gehört in einer geographischen Dimension u. a. der Mittelmeerraum als Verdichtungspunkt von Migration und Flucht, die auch aus kolonialer Gewalt resultieren, und als Ort eines transeuropäischen bzw. Ausgangspunkt eines transantlantischen Exils von Intellektuellen im Faschismus.8 Beispielhaft verhandelt wird die (Un-)Möglichkeit des Aufbruchs und des Ausbruchs aus Krieg und Gewalt im Mittelmeerraum in Anna Seghers’ im Exil verfassten Roman Transit.9 Zu den Räumen, die den Aufbruch in einer reparativen Perspektive denken, gehört aber auch die wiedervereinige Stadt Berlin: Dort, wo historische und politische Zäsuren einen Neustart bedingen, öffnet sich zum einen ein Raum für die Projektion von Zukunft. Zum anderen ergibt sich daraus ein Aufbruch in die Vergangenheit, der in der Rückwärtsbewegung Traumata reparativ bearbeitet. Das trifft u.a. auf das Werk der französischen Autorin Cécile Wajsbrot zu, für die sich der Zugang zur nationalsozialistischen Vergangenheit aus dem Mauerfall ergibt: „L’Est de l’Allemagne me faisait peur, sans que j’en sache bien la raison – l’addition, peut-être, de deux totalitarismes – et Berlin demeurait la capitale du Troisième Reich. À la chute du Mur, […], quelque chose de ma résistance disparut et Berlin devint une ville où je voulais aller […].“10 Wajsbrots Romane, die aus diesem Zugang entstehen, zeigen gleichzeitig Figuren, die als „transfuges“11, als Protagonist:innen von „Literaturen ohne festen Wohnsitz“12 und als Zeichen einer „délocalisation du roman“13 ständig neu zum Aufbruch bereit sind. In einer Art von Nomadismus, der den Aufbruch zum Lebens- und Schreibparadigma macht, schaffen sie mobile Geographien. Diese Geographien sind zukunftsorientierte Weltzugriffe, die der Entstehung von Verletzungen auch vorbeugen sollen.
Was wird mitgenommen und was wird zurückgelassen? Der Aufbruch stellt auch die Frage nach dem Gepäck, das Menschen auf Reise und Flucht begleitet. Konkrete Gegenstände wie Koffer gehören dazu ebenso wie die psychischen und physischen Verletzungen, die aufbrechende Figuren als Fliehende mitnehmen und die den Aufbruch zum Bestandteil einer Erfahrungspoetik von Krise und Trauma werden lassen. Das Gepäck erhält im Blick auf Erzählungen des Aufbruchs als reparative Praktiken eine Doppelfunktion: Als Last kann es eine Bearbeitung von Traumata verhindern und ein Gefangensein in der Irreparabilität markieren; es kann aber auch Denkfigur der Hoffnung auf eine Zukunft werden. Das Gepäck meint dann das, was für man für ein Weiterleben benötigt, ein notwendiges ,Werkzeug‘ für die Gestaltung von Zukunft aus der Vergangenheit. Ein Gepäckstück, das den Aufbruch mit Fragen des Irreparablen zusammendenkt, ist etwa der ständig gepackte Koffer in Igiaba Scegos Roman Adua (2017)14, Ausdruck der Hybridexistenz der Protagonistin, die sich auch aus kolonialer Gewalt ergibt.
Der deutsche Begriff des Aufbruchs steht in sprachlicher und semantischer Nähe zum Abbruch, Umbruch und Durchbruch. Sie alle sind Begriffe der Veränderung und in ihnen ist der Bruch als Einschnitt, Verletzung und Beschädigung bereits enthalten. Der Aufbruch reagiert auch sprachlich-grammatikalisch auf diesen Schnitt – nicht zuletzt durch die zweifache Bedeutung des Begriffs: Er bezieht sich ebenso auf das Losgehen zu einem neuen, anderen Ort wie auf ein Aufsprengen und Überschreiten von Ordnungen, Denkmustern und Erfahrungen (der Gewalt). Darin besitzt er ein kreatives Potenzial, das auch ein reparatives Potenzial sein kann, wenn kulturelle Praktiken den Aufbruch wie in den hier evozierten Beispielen erzählen und dabei zugleich selbst zum Aufbruch in eine Zukunft werden.
Hannah Steurer
1. Mein besonderer Dank gilt Anne-Sophie Donnarieix für den gemeinsamen Aufbruch und die vielen Gespräche über Figurationen des Aufbruchs in literarischen Texten und darüber hinaus. Ohne unseren Austausch wäre dieser Glossar-Eintrag nicht denkbar.
2. Vgl. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchung zur historischen Poetik. Frankfurt am Main: Fischer, 1989.
3. Kossi Efoui: Une magie ordinaire. Paris: Seuil, 2023, 13.
4. Ebd., 114.
5. Vgl. Rachid Boudjedra: Topographie idéale pour une agression caractérisée, Paris: Gallimard, 1975.
6. Vgl. für eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf das Verschwinden und verschwundene Personen und Stimmen Rabaté, Dominique: Désirs de disparaître. Une traversée du roman contemporain. Rimouski: Tangeance éditeur, 2015.
7. Vgl. zur Rolle von Träumen als reparativer Praxis in Erzählungen der Shoah den Glossar-Beitrag „Traum“: Christiane Solte-Gresser: „Traum.“ Reparieren. Glossar kultureller Praktiken der Reparation, 15. Juli 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/glossar/traum/.
8. Für einen vertieften Blick auf das Mittelmeer vgl. u. a. Franck Hofmann und Markus Messling: Fluchtpunkt. Das Mittelmeer und die europäische Krise. Berlin: kadmos, 2017.
9. Vgl. Anna Seghers: Transit. Konstanz: Curt Weller, 1948. Vgl. auch die auf Seghers’ Roman basierende Verfilmung Transit von Christian Petzold aus dem Jahr 2018.
10. Cécile Wajsbrot: Berliner Ensemble. Montreuil: La ville brûle, 2015, 8. Vgl. für den neuen Zugriff insbesondere französischer Intellektueller auf Berlin nach dem Mauerfall Hannah Steurer: Tableaux de Berlin. Der französische Blick auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter, 2021, 343–512.
11. Patricia Oster: „,Transfuges‘entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs im Werk Cécile Wajsbrot.“ In: Roswitha Böhm, Stephanie Bung und Andrea Grewe (Hrsg.): Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr, 2009, 237–256.
12. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin, kadmos, 2006.
13. Anne-Sophie Donnarieix und Jochen Mecke, (Hrsg.): La délocalisation du roman. Esthétiques néo-exotiques et redéfinition des espaces contemporains. Berlin: Lang, 2020.
14. Igiaba Scego: Adua. Florenz: Giunti, 2015.
Hannah Steurer: „Aufbruch.“ Reparieren. Glossar kultureller Praktiken der Reparation, 6. Juli 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/glossar/aufbruch/.