Rhinozeros. Europa im Übergang ist die Jahresschrift des Käte Hamburger Kollegs für kulturelle Praktiken der Reparation. Sie präsentiert Texte und Bilder einer historisch bewussten Gegenwartsdiagnostik. Ihr Anliegen ist es, die weltweiten und vielfältigen Diskussionen über Reparationen ins Gespräch mit der deutschen Gesellschaft zu bringen und so der Herausforderung zu begegnen, die europäischen Weltbezüge neu zu gestalten. Wie das Käte Hamburger Kolleg zielt auch Rhinozeros auf Internationalisierung, Übersetzung und Öffnung zur Welt. Im Zeichen eines Verbs, eines Tuns, versammelt die Zeitschrift wissenschaftliche und künstlerische Stimmen aus dem Kolleg und weit darüber hinaus.
Das Rhinozeros ist gewiss ein merkwürdiges Mitglied der Weltgemeinschaft des Lebendigen: dickhäutig und widerständig, wohlgenährt und standsicher könnte es zuversichtlich in die Zukunft blicken. Aber das ist es nun gerade: Seine Sicht ist extrem eingeschränkt. Daher seine Reizbarkeit. Das Nashorn ist ein Emblem Europas. Seit der Antike war es mit imperialer Macht verbunden: als Wappentier, kostbares Geschenk unter Potentaten und Zentrum von Schaulust. Doch Horn und Panzerung, Relikte eines Urviechs, sind ein schweres Erbe. Sie verleihen keine Gewissheit mehr. Als Scheinriese sucht das Rhinozeros seinen Platz in der Gegenwart. Es wird Gewicht abgeben und sich neu im Zusammenleben bewähren müssen. Sein sensibles Ohr nah an den Zeitläuften zu haben, darauf kommt es an. Denn auf dem allzeit brüchigen Boden der Geschichte stellt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen kann ein halbblinder Mehrtonner den Übergang wagen?
Rhinozeros. Europa im Übergang 2 | besitzen
Herausgegeben von Franck Hofmann | Markus Messling | Maria-Anna Schiffers
Wie das Zusammenleben in einer geteilten Welt gestalten, ohne zuvor nach der enteigneten zu fragen?
„Solange uns Asymmetrien und Obsessionen, das, was wir besitzen, und das, was von uns Besitz ergreift, trennen, bleiben Krieg und Verwüstung ein realistischer Horizont. Und das nicht nur auf den Schlachtfeldern dieser Erde, sondern in nuce: in den je besonderen und herausfordernden Lebenswelten von Menschen. 2018 lancierte Donald Trump sein infames Wort von den »shithole countries«, den Drecksländern, und meinte damit den afrikanischen Kontinent, vor allem aber Haiti. Von der Karibikinsel, die einst die Freiheitsforderung der Französischen Revolution gegen den europäischen Kolonialismus wendete, schreibt ihm Makenzy Orcel in diesem Rhinozeros zurück. Aus einer Welt des Elends und der Enteignung sendet er die Nachricht von seinem Zeitungsausträger, dem Läufer am Rande des Abgrunds von Port-au-Prince: »Wir leben in einem schwarzen Loch. Wenn wir könnten, würden wir alle weggehen, alle.« Es gilt, die reale Stellung dieser Stimmen zu verstehen, für ihr Gehör zu sorgen, ihnen Kraft zu verleihen, schreibt Gisèle Sapiro, nicht dem Phantom einer gesicherten Identität hinterherzulaufen. Anerkennung, die gerade als soziale Anerkennung Gegenstand politischer Kämpfe ist, gilt es vielmehr an Differenzen zu binden. Diese auszuhalten und zu gestalten bleibt die Herausforderung jeder Politik der Öffnung.“
Vom Zeitungsausträger. Editorial (Auszug)
Mit Beiträgen von Maike Albath, Bruce Albert und Davi Kopenawa Yanomami, Gabriela Cabezón Cámara, Kossi Efoui, Arno Frank, Werner Gasser, Friederike Groß, Tammy Lai-Ming Ho, Hamedine Kane, Marcel Lepper, Dimitris Michalakis, Makenzy Orcel, Cord Riechelmann, Paolo Risser, Gisèle Sapiro, Spyros Staveris, Camille de Toledo und Joseph Vogl.