Rhinozeros. Europa im Übergang ist die Jahresschrift des Käte Hamburger Kollegs für kulturelle Praktiken der Reparation. Sie präsentiert Texte und Bilder einer historisch bewussten Gegenwartsdiagnostik. Ihr Anliegen ist es, die weltweiten und vielfältigen Diskussionen über Reparationen ins Gespräch mit der deutschen Gesellschaft zu bringen und so der Herausforderung zu begegnen, die europäischen Weltbezüge neu zu gestalten. Wie das Käte Hamburger Kolleg zielt auch Rhinozeros auf Internationalisierung, Übersetzung und Öffnung zur Welt. Im Zeichen eines Verbs, eines Tuns, versammelt die Zeitschrift wissenschaftliche und künstlerische Stimmen aus dem Kolleg und weit darüber hinaus.

Das Rhinozeros ist gewiss ein merkwürdiges Mitglied der Weltgemeinschaft des Lebendigen: dickhäutig und widerständig, wohlgenährt und standsicher könnte es zuversichtlich in die Zukunft blicken. Aber das ist es nun gerade: Seine Sicht ist extrem eingeschränkt. Daher seine Reizbarkeit. Das Nashorn ist ein Emblem Europas. Seit der Antike war es mit imperialer Macht verbunden: als Wappentier, kostbares Geschenk unter Potentaten und Zentrum von Schaulust. Doch Horn und Panzerung, Relikte eines Urviechs, sind ein schweres Erbe. Sie verleihen keine Gewissheit mehr. Als Scheinriese sucht das Rhinozeros seinen Platz in der Gegenwart. Es wird Gewicht abgeben und sich neu im Zusammenleben bewähren müssen. Sein sensibles Ohr nah an den Zeitläuften zu haben, darauf kommt es an. Denn auf dem allzeit brüchigen Boden der Geschichte stellt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen kann ein halbblinder Mehrtonner den Übergang wagen?

Rhinozeros. Europa im Übergang 3 | träumen | 2024
Herausgegeben von Franck Hofmann | Markus Messling | Christiane Solte-Gresser

Wie das Zusammenleben in einer geteilten Welt gestalten, ohne auch nach der verschlossenen zu fragen?

„Angesichts von Nukleararsenalen, Tschernobyl und Waldsterben spielte das Leben dabei bereits in den 80er und neo-national euphorisierten 90er Jahren vor einem apokalyptischen Hintergrund. Doch es gab Sit-ins und internationale Solidarität, die Rainbow Warrior und Fuck Chirac!, Widerstand gegen Nuklearenergie und Atomtod, die Einführung von Recyclingpapier und Mülltrennung. Die Zeiten waren alles andere als rosig, die popkulturelle Gegenbewegung war es umso mehr. Es gab noch eine Vorstellung davon, dass, wenn schon nicht das Paradies, so doch Schritte in die richtige Richtung zu haben waren. Es gab, wie David Scott es einmal gesagt hat, eine Vorstellung von Entwicklung, so problematisch diese in Bezug auf die Dritte-Welt-Laden-Rhetorik auch gewesen sein mag. Heute, so scheint es, steht alles still. Der Spielraum, den sich die Jugend etwa mit der Fridays-for-Future-Bewegung nach 2018 noch heroisch erstritten hatte, scheint mit Corona-Pandemie und neuen Kriegslagen schon wieder verschlossen. Hysterie und Kulturkampf aller Orten. Kein Traum, nirgends. (…) Wenn sich Rhinozeros nach Fragen des Reparierens und Besitzens in einer beschädigten und enteigneten Welt nun dem Träumen zuwendet, dann aus der Einsicht heraus, dass in den Träumen der Menschen eine Enttäuschung, ein Potenzial liegt, die notwendige Transformation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu gestalten.“
Von den Schattentieren. Editorial (Auszug)

Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno und Ernst Bloch, Barbara Breitenfellner, Liliana Colanzi, Leyla Dakhli, Souleymane Bachir Diagne, Aïcha Filali, Friederike Groß, Albert Herbig, Tim Hetherington, Giovanni Levi, Nastassja Martin, Daliri Oropeza Álvarez, Muriel Pic, Cord Riechelmann, J. Emil Sennewald, Shumona Sinha, Sharon Sliwinski, Chris Song und Emil Szittya.