

Das lyrische Ich des Berliner Musikers Peter Fox will Alles neu und zieht aus der deutschen Befindlichkeit aus: »Ich baue schöne Boxentürme, Bässe massieren eure Seele. Ich bin die Abrissbirne für die deutsche Szene …« Ausziehen, auswandern aus der erstickenden Heimat, jener, die gesetzt wird, leitkulturell betoniert, unter dem Horizont der Gartenhecke. Nicht nur dem Hunger und der Diphterie, sondern auch dieser geistigen Misere möchte Jakob Simon in der Anderen Heimat entkommen, Edgar Reitz’ millimetergenauem psychologischem Echolot der postrevolutionären deutschen Lande. Jakob will nicht nur der brutalen Repression nach dem März 1848 entfliehen, sondern auch der Enge des Dorfes. Er träumt von der tropischen Welt Südamerikas. Haben die Indios nicht verschiedene Begriffe für »Grün«? Tickt ihre Zeit nicht anders? Während er aber die Freiheit verpasst, ziehen die Planwagentrecks nach Le Havre; Deutschland das Auswandererland, weitgehend vergessen. Und in den Filmbildern von Edgar Reitz sehen wir Nachgeborenen schon die anderen Menschenzüge der Freiheitszerstörung ziehen, Gefangenenkolonnen, Todesmärsche.
Die Welt geht einmal mehr vor die Hunde. Statt rationaler Politik, die gegen eine Angst getriebene Verweigerung kaum mehr Chancen hat, stehen heute Beschwörungen einer als Gated Community eingerichteten Heimat erneut hoch im Kurs. In diesem umzäunten ›Wir‹ waren schon immer alle verdächtig, die nicht zu den Sesshaften zählten, die nicht an der Scholle klebten, denen mit dem Boden die Familie und die Götter abhandengekommen waren. Gegen die Moderne und die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen setzte Heidegger ein dichterisches Wohnen in einer als »Haus des Seins« aufgefassten Sprache. Er mobilisierte die Idee des Gevierts, das für ihn ihm Schwarzwaldhaus seinen Ausdruck gefunden hat und in dem das Leben im Sein verwurzelt ist.
Solche Vorstellungen, in denen zu wohnen bedeutet, bei sich und Teil einer als Heimat aussta:fferten Gemeinschaft zu sein, sind nicht erst heute reaktionär. Bereits in der Dialektik der Moderne, mit Kolonialismus und der als zivilisatorische Mission verbrämten europäischen Expansion, spätestens aber mit Shoah und Weltkrieg, war das Wohnen als existentielle Frage problematisch geworden. Damit wurde es umso mehr als soziale Frage und als Bauaufgabe zu einem Teil der sozialen Gestaltung einer neuen Gesellschaft. Genossenschaften und gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaften gaben seit den 1920er Jahren eine Antwort auf die 1872 von Engels programmatisch gestellte Wohnungsfrage. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik als DGB-Konzern »Neue Heimat« fortgeführt, der konzeptuell dem Neuen Bauen der Moderne verpflichtet war, dem Namen nach aber fortführte, was in dieser doch gerade nicht mehr ungebrochen aufgerufen werden kann. »Heimat ist immer etwas Retrospektives«, sagt Edgar Reitz, »ein Gefühl des Verlusts.« Allein, darin können sich nur jene einfinden, die diese innere Spannung aushalten. Diese Art der Einrichtung wäre ein permanentes Bildungsprogramm, der politische Auftrag zu Kreativität, wo sonst das Ressentiment gegen die Angst sturmläuft.
Heimat als Rückzug ist nur noch in der Gestalt volkstümelnder Themenparks und gastfeindlicher Wohnzimmer zu haben. Diese aber helfen nicht, sondern verstellen nur den Blick auf die Umbrüche der Weltgesellschaft. Auf einem Planeten, dessen Bewohnbarkeit schon heute für große Teile der Weltbevölkerung – und erst recht für kommende Generationen – in Frage steht, wird Wohnen zum Fundamentalproblem. Während Felwine Sarr nach Wegen sucht, wie wir angesichts der globalen Katastrophen die Welt zusammen bewohnen können, imaginieren andere in der Logik hyperkapitalistischer Zweckrationalität einen Planeten B, indem sie darauf hinarbeiten, den Mars zu besiedeln. Doch inmitten von Klimawandel und Fluchtmigration einerseits, Überalterung und Wachstumsillusionen andererseits, stehen wir alle auf einer schiefen Ebene. Wir erleben mit Camille de Toledo ein Zeitalter des Schwindels. Für viele ist das keine psychologische Metapher, sie stehen vor dem Verlust ihres Lebensortes. »Ich war ein Geist geworden«, konstatiert die Hongkonger Dichterin Tammy Lai-Ming Ho, die im Innenhof des Tuen Mun Sozialwohnungsbaus, in dem sie aufgewachsen ist, in einem Albtraum von Entfremdung und Exil aufwacht.
Wie also kann das Wohnen »im Lichte der Koexistenz mit den anderen« gedacht werden?« – fragt Donatella Di Cesare in ihrem Beitrag und betont, dass das Wohnen, so wie jedes Dasein, auf den anderen angewiesen ist, ein »fortgesetztes Heimischwerden, eine unablässige Rückkehr« sei, »die ohne die Beziehung zu den anderen unmöglich ist«. Die römische Philosophin wurde von Francesco Lollobrigida, dem italienischen Agrarminister und Schwager von Giorgia Meloni, vor Gericht gezerrt, weil sie dessen Vokabular – die irre Rede vom »Bevölkerungsaustausch« – als das bezeichnet hatte, was es ist: als faschistischen Jargon. Hier zeigt sich eine antike Konstellation: Die Denkerin spricht wahr, wo Wahrheit tyrannisch gebeugt wird. Aber noch siegt die Lüge nicht, Donatella Di Cesare hat für uns alle in Europa mutig gekämpft und Recht bekommen. Je mehr die Kultivierung des Bodens, auf dem wir stehen – war die Landwirtschaft nicht der Beginn einer jeden Kultur? –, wieder zur Schollenfrage wird, desto mehr müssen die Institutionen und Infrastrukturen des Rechtsstaats gewürdigt werden.
Wohnen heute – das bedeutet, nicht mehr im Sein behaust zu sein. »Gehen wir wohnen?«, fragt lakonisch Edgar Reitz in unserem Gespräch über seine Heimat-Trilogie und denkt darüber nach, wie das, was doch so einfach scheint, überhaupt noch möglich ist. Vielleicht in einem neuen Bezug zu den Anderen, die wir selbst sind; niemals so ganz mit uns selbst identische und bei sich wohnende Menschen? Die Chance zur Gelassenheit, die darin liegt, hat der Sänger Peter Fox in seinem schon aufgerufenen Song formuliert, mit dem er 2008 die Physiognomie des angstlosen Menschen zeichnet: »Ich jag’ meine Bude hoch, alles was ich hab’, lass’ ich los (uh!).« Rhinozeros möchte bei aller Skepsis daran festhalten, dass die Welt ein wohnlicherer Ort werden kann.
Rhinozeros
→ Rhinozeros. Europa im Übergang 4 | wohnen
Rhinozeros: „Von den Anderen: Editorial.“ In: Franck Hofmann, Markus Messling und Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): Rhinozeros: Europa im Übergang: wohnen (Bd. 4). Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 8–11, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/von-den-anderen/.