Henri Lefebvre lenkte in seiner Kritik des Alltagslebens (1947) in kritischer und durchaus ironischer Weise die Aufmerksamkeit auf die „Koexistenz“ von „Hacke und Holzpflug mit interplanetarischen Raketen“. Er bezeichnet diese Koexistenz – eines „rückständigen Alltagslebens“ mit „hochentwickelter Technik“ – als „schwer erträglich“1 Die Ungleichzeitigkeiten zeugen in Lefebvres Lesart vor allem von sozialer Ungerechtigkeit. Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt für ihn weder in der Abschaffung oder Umwandlung dieser vermeintlich rückständigen Produktionsformen durch das Prinzip der erweiterten Kapitalakkumulation noch in der Rückkehr in vorkapitalistische Produktionsformen: Der Weg ist versperrt. Wir stecken in der Aporie. Ein Symptom davon ist etwa die Denkmalpflege und Musealisierung. Lefebvre erkennt in den „Überbleibseln“ früherer Praktiken jedoch „affektive Kerne“: „[I]n gewisser Weise erscheinen sie schöner, kostbarer, näher“ als die akkumulierten Erfahrungen und Erkenntnisse, die er vor allem als Ergebnis einer Rationalisierung des Lebens versteht.2 Wie aber kann der „affektive Effekt“ zu einem anderen Welt- und Dingbezug beitragen, mit einem anderen Wort: zu einem Bewusstseinswandel?
Mit dieser Frage will ich anknüpfen an die drei Fotografien eines venezianischen pozzo, die Hendrik Rungelrath kürzlich auf dem Blog des Käte Hamburger Kollegs CURE veröffentlicht hat3. Der Blick des Fotografen interessiert sich – das zeigt die Sequenz – vor allem für die reparative Intervention an diesem Objekt. Bis auf die Betitelung „Mended Well“ hat Rungelrath das geflickte Objekt unbesprochen gelassen.
Man kann die Aura des Objekts mitsamt der schmiedeeisernen Klammern, die sich gleichsam an den aus istrischem Stein gehauenen Brunnenkranz anschmiegen, für sich sprechen lassen.
Zugleich ist die Bildreihe für mich eine Anregung gewesen, zu versuchen, etwas zu formulieren, das dieses Objekt zum Ausgangspunkt nimmt, um die „kulturellen Praktiken der Reparation“ im Horizont von Denkmalpflege und Tourismus zu beleuchten.
Das führt uns mitten hinein in die urbanen und kulturellen Widersprüche, in die Venedig – wie viele andere italienische Städte – in besonders extremer Weise verstrickt ist. In extremer Weise, weil die Widersprüche dieser Stadt in ihre Gründungsanfänge zurückweisen: Eine Stadt inmitten einer sumpfigen Lagune zu errichten, brachte von Anfang an nicht nur statische Probleme mit sich, sondern auch logistische: etwa die Trinkwasserversorgung. Damit sind wir bei der Besonderheit des pozzo veneziano: Eben diese Erfindung aus dem dreizehnten bzw. vierzehnten Jahrhundert hat, bis zu ihrer Ablösung durch das Wasserwerk, das 1884 errichtet wurde, überhaupt die Basis für das alltägliche Überleben der Bewohnerinnen und Bewohner in der Lagunenstadt garantiert.
Denn in Venedig gibt es keine Trinkwasserquellen. Das trinkbare Wasser musste aus dem Regen gewonnen werden. Um es zu sammeln, entwarfen die Venezianer Zisternen, die – fünf bis sechs Meter tief – unter großen Plätzen ausgehoben wurden. Der Boden des Tanks wurde mit wasserdichtem Ton und dann mit Schichten von Flusssand mit unterschiedlicher Feinheit aufgefüllt, um eine Art Filter zu schaffen. Die Oberseite des Beckens wurde mit istrischem Stein bedeckt, um das Pflaster des Platzes zu bilden. In diesem Bürgersteig befanden sich in der Regel vier Abwasserkanäle, durch die das Wasser gesammelt wurde, und ein Brunnen.
Da der Bau solcher Brunnen aufwendig und kostspielig war, lud die Stadtregierung die adligen und wohlhabenden venezianischen Familien dazu ein, sie der Stadtgemeinschaft zu stiften. Die meisten der einst über 6000 Brunnen, die aus einem solchen Stiftungsakt hervorgegangen sind, sind mit dem Familienwappen, aber auch mit anderen – je nach Epoche variierenden – dekorativen Motiven verziert. Man nennt diese Verzierungen „vere da pozzo“.4
Die Funktion der Brunnen ist Geschichte. Heute ragen noch etwa 600 pozzi funktionslos in die Gegenwart. Ihre Schächte sind versiegelt. Etwas Hermetisches haftet ihnen an. Dass sie sorgfältig geflickt werden, wie auf den Fotos erkennbar, hat also nichts mit dem Erhalt einer Funktion zu tun, sondern reinen Denkmalpflege-Charakter. Auf manchen kann man folgende Inschrift entziffern: „Commodiati Publicae Nec Non Urbis Ornamento“, „zu Diensten des Volkes und zugleich Ornament der Stadt“. Gemeinnützigkeit im praktischen und im ästhetischen Sinne gehen hier zusammen. Der Erhalt des Denkmals lädt uns dazu ein, über diesen in der Moderne weitgehend zerbrochenen Zusammenhang nachzudenken.
Die von der UNESCO verabschiedete Charta von Venedig (1964) gilt als zentrale und international anerkannte Richtlinie in der Denkmalpflege. Sie legt die Werte und Vorgehensweisen bei der Konservierung und Restaurierung von Denkmalen fest. In der Präambel heißt es:
„Als lebendige Zeugnisse jahrhundertealter Traditionen der Völker vermitteln die Denkmäler in der Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit. Die Menschheit, die sich der universellen Geltung menschlicher Werte mehr und mehr bewußt wird, sieht in den Denkmälern ein gemeinsames Erbe und fühlt sich kommenden Generationen gegenüber für ihre Bewahrung gemeinsam verantwortlich. Sie hat die Verpflichtung, ihnen die Denkmäler im ganzen Reichtum ihrer Authentizität weiterzugeben.“5
Es gibt in Venedig eine Vielzahl sehr spezieller Handwerkskünste bis heute, denn der Erhalt der Gebäude, Brücken und Wege verlangt sehr genaue Kenntnisse der spezifischen materiellen und atmosphärischen Gegebenheiten in diesem sehr engen, verwinkelten, von Wasser umgebenen Raum. Eine ortsunspezifische Technik scheitert an Venedig. 2023 hat dies der venezianische Schriftsteller Tiziano Scarpa am Beispiel der Müllentsorgung dargelegt.6 Er nimmt die Straßenfeger mit ihren aus Reisig zusammengebundenen Besen in den Blick: eine alte, quasi universelle Geste, die aber heute vielerorts verschwunden ist. Neben dieser alten Kulturtechnik der Straßenreinigung verfügt Venedig über ein sehr ausgefeiltes Müllentsorgungssystem, mit dem die riesige alltägliche Produktion von Abfällen, nicht nur von den immer weniger werdenden Einwohnern, sondern vor allem von der täglichen Flut von im Schnitt 50.000 Touristen, bewältigt wird. Dafür gibt es, wie Scarpa darlegt, ganz speziell angefertigte Müllboote. Diese – ebenso geräumig wie wendig – existieren nirgends sonst auf der Welt. Sie wurden von Ingenieuren speziell für Venedig konzipiert, in Kenntnis seiner Wasserstraßen, der Strömungen und wechselnden Pegelständen. Ein Müllboot, das nicht einfach auf dem Markt verfügbar gewesen wäre, ein Müllboot, das nirgends sonst Verwendung finden würde.
Die absolute Besonderheit der logistischen und materiellen Bedingungen von Venedig ist bis ins kleinste alltägliche Detail hinein ein Faszinosum. Diese Besonderheit auf unzähligen Ebenen trägt dazu bei, dass sich in Venedig immer noch eine enorme Diversität handwerklichen und materiellen Wissens und reparativer Techniken hält. Auch hier gibt es ein „indigenes“, ortsspezifisches „Wissen“, das verdient, in den gegenwärtigen Diskurs über das Leben im Anthropozän aufgenommen zu werden. Denn auch, wenn es auf keinen anderen Ort übertragbar ist, so zeugt es doch von einer hohen Sensibilität, der es bedarf, um Mensch und Natur in einem Gleichgewicht zu halten.
Andererseits erlebt Venedig seit Jahrzehnten – und seit der endemischen Verbreitung von Billigfliegern, Kreuzfahrtschiffen und Airbnb radikal verschärft – eine komplette innere Aushöhlung seiner sozialen Strukturen. Zunehmend ist alles auf den Tourismus ausgerichtet, was dazu zwingt, die Singularität der Stadt in ein global konsumierbares Erlebnis zu übersetzen. Ein Gewaltakt.
Im Zuge dieser extremen Umgestaltung der Stadt erscheint auch etwa die Kunst des Flickens der venezianischen pozzi in einem anderen Licht. Der sorgfältige Erhalt des Objekts ist nicht nur Ausdruck von einer hohen handwerklichen Ingeniosität sowie der Liebe fürs Detail, sondern auch einer „musealen“ Haltung, die man Venedig spätestens seit Marinettis berühmtem futuristischen Manifest „Contro Venezia passatista“, das er in 800.000 Exemplaren 1910 vom Markusturm auf die Menge regnen ließ, regelmäßig zum Vorwurf macht. Die Futuristen wollten – aus großer, aber verletzter Zuneigung – Venedig von seiner Vergangenheitsverhaftetheit heilen: „Noi vogliamo guarire e cicatrizzare questa città putrescente, piaga magnifica del passato.“7 Marinetti schwebte ein industrialisiertes und militärisch mächtiges Venedig vor, das – wie in der Vergangenheit! – die Adria beherrschen würde. Ich sehe vor meinem inneren Auge ein Heer von spazzini, wie es mit aus Reisig gebundenen Besen die beleidigende Papierverschmutzung eifrig wegfegt …
Und der pozzo, well mended? Ist die Flicktechnik am pozzo mithin als Widerstand gegen die kapitalistische Rationalisierung der Welt zu bewerten oder als solche nicht gänzlich überbewertet? Ist sie nicht längst selbst Teil der durch und durch organisierten Spektakularisierung dieser antimodernen Stadt geworden, die vor allem dem touristischen Konsum dient?8
Venedig droht seit einigen Jahren, in die „Liste des gefährdeten Werterbes“ der UNESCO aufgenommen zu werden. Die Stadt, die so viel spezifisches Wissen darüber in sich birgt, wie Mensch und Natur im Gleichgewicht leben können, ist völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Wohl nirgends ist die Spannung zwischen einer alten und irgendwie glücklichen (weil vom Rhythmus der Gezeiten geprägten, komplizierten, von Unmöglichkeiten umrahmten, Erfindung notwendig machenden) Lebensform einerseits und der spätkapitalistischen Realität des Ausverkaufs des europäischen Kulturerbes andererseits deutlicher zu spüren als hier. Auch ist keine Stadt stärker von Untergangsvisionen überformt wie diese: Der steigende Meeresspiegel aufgrund des Klimawandels und die jedes Jahr höhere Anzahl von Touristen weisen – einem rationalen Kalkül zufolge– auf das nahe Ende von Venedig hin. Zugleich aber steht kaum eine andere Stadt aufgrund ihrer Schönheit, die einen auch heute noch bezaubert, als Zeichen dafür, dass der Mensch hier etwas geschaffen hat, das bewahrenswürdig ist. Die Schönheit von Venedig rührt – neben den natürlichen Elementen Licht und Wasser, in denen sie badet, vor allem daher, dass sich das Bild der Stadt trotz ihrer fortschreitenden inneren Aushöhlung weit weniger im Zuge der modernen Urbanisierung verändert hat als andere. Diese Widersprüche sind in Venedig alltägliche Realität und Erfahrung.
Tiziano Scarpa fasst diese Widersprüche, indem er von Venedig (seinen Einwohnern) und einem Meta- bzw. Ultra-Venedig (den Touristen) spricht, die er als zwei Seiten eines symbiotischen Organismus versteht, in dem sich Aktion und Abbild gegenseitig bedingen.9
Der Erhalt der Stadt dient aus dieser Perspektive allein ihrer weiteren Ausbeutung und Zerstörung. Auch wenn Scarpas Beitrag, wie fast jedes Sprechen über Venedig, apokalyptisch endet, so ist mit einer kleinen Bemerkung vielleicht doch ein Ausweg aus dieser Sackgasse angezeigt. Scarpa schreibt: „A Venezia ogni cosa è faticosa, anche la gestione dell’ordinario diventa un problema da affrontare con soluzioni eccezionali.“10 Mit diesem Satz öffnet sich der Blick auf das ganz alltägliche Venedig, im durchaus niedrigsten Sinne, das man – mit Georges Perec – das „Infra-Venedig“ nennen könnte,11 und zu dem neben vielen anderen kleinen ortsspezifischen Gesten auch die Kunst des Brunnenflickens einen Zugang bildet.
Judith Kasper
1. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit [1947]. Frankfurt am Main: Fischer, 1987, 150.
2. Ebd., 171.
3. https://cure.uni-saarland.de/en/media-library/blog/mended-well-venice/
4. Die umfassendste Abhandlung über die pozzi veneziani bietet Alberto Rizzi: Vere da pozzo a Venezia. Caselle die Sommacampagna: Cierre, 2024.
5. International Charter for the Conservation and Restoration of Monuments and Sites (The Venice Charter) mitsamt den offiziellen Übersetzungen in zahlreichen Sprachen: https://admin.icomos.org/wp-content/uploads/2025/03/Venice_Charter_DE.pdf.
6. Tiziano Scarpa: „Benvenuto a Ultra-Venezia.“ The Passenger. Venedig/Mailand: Iperborea, 2023, 9–25.
7. Filippo Tommaso Marinetti u. a.: „Contro Venezia passatista.“ In: I manifesti del futurismo. Florenz: Lacerba, 1914, 32–33. „Wir wollen diese verwesende Stadt, diese großartige Plage der Vergangenheit, heilen und vernarben.“
8: Im Allgemeinen zu den inneren Widersprüchen der Denkmalpflege, siehe Stefan Willer: „Kulturelles Erbe und Nachhaltigkeit.“ In: Paul Klimpel und Jürgen Keiper (Hrsg.): Was bleibt? Nachhaltigkeit der Kultur in der digitalen Welt. Berlin: iRights.Media, 2013, 139–152.
9. Scarpa, Ultra-Venezia, 10.
10. Ebd., 17. „In Venedig bereitet alles Mühe, auch die Bewältigung des Alltags wird zu einem Problem, das nach außergewöhnlichen Lösungen verlangt.“
11. In Anlehnung an Georges Perecs, von Paul Virilio und Jean Duvignaud inspirierten Überlegungen zum „infra-ordinaire“, in: Georges Perec: L’Infra-ordinaire. Paris: Seuil, 1995.
Judith Kasper: „‘Zu Diensten des Volkes und zugleich Ornament der Stadt’.“ The Reparation Blog, 20. Juni 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/zu-diensten-des-volkes/.