In diesem Interview spricht Emmanuel Debono mit Markus Messling über sein Buch Universalität nach dem Universalismus. Über frankophone Literaturen der Gegenwart (Matthes & Seitz, 2019), das 2023 als L’universel après l’universalisme auch bei den Presses universitaires de France erschienen ist und in Frankreich stark wahrgenommen wurde. In französischer Sprache wurde das Interview in Le Droit de Vivre (Nr. 695, 2025) gedruckt, der Zeitschrift der Ligue international contre le racisme et l’antisémitisme (LICRA), und ist hier online abrufbar.

Emmanuel Debono: Ihr Essay basiert auf einer sehr scharfen Kritik des europäischen Universalismus, insbesondere des französischen – Ihrer Meinung nach war er niemals wirklich universell. Inwiefern bietet die Literatur einen privilegierten Zugang, um diese Feststellung zu treffen?

Markus Messling: Es geht mir nicht um eine schlichte Kritik an Frankreich, sondern darum, anhand des besonders markanten französischen Modells europäische Weltbeziehungen neu zu verstehen. Wir leben in einer Zeit, in der einerseits die Universalität der Menschenwürde und -rechte durch rechtsradikale und identitäre Politiken im Westen selbst massiv infrage gestellt wird. Andererseits hat der westliche Universalismus aufgrund des Kolonialismus und seiner ausbeuterischen Politik seine Legitimität in der Welt weitgehend verloren. So stehen wir vor dem Paradox, Universalität begründen zu müssen, weil aus ihr Gültigkeiten in der Weltgesellschaft ableitbar werden, diese Universalität aber nicht mehr auf den Begriff bringen zu können. Natürlich kann die Literatur dieses Problem, das die philosophische Frage aufwirft, nicht lösen. Literatur bringt nicht etwas auf den Begriff; im Gegenteil, sie fächert das Problem erzählend so auf, dass es erfahrbar wird. So kann sie aber die Probleme sichtbar machen, welche die Aushandlungsprozesse charakterisieren, die mit dem Zusammenschmelzen des Universalismus und der Suche nach einer neuen Universalität einhergehen. Erzählend kann sie gleichzeitig Verlustängste und Hoffnungen erfahrbar machen. Damit hat sie bereits Teil an der Hervorbringung eines neuen Weltbewusstseins. Was ihre Analyse veranschaulichen kann, ist die Entstehung eines neuen Bewusstseins von Universalität.

E. D.: Ihre Überlegungen beruhen auf der Analyse einer Literatur, die eine tiefgreifende Melancholie zum Ausdruck bringt. Was bedeutet Ihrer Meinung nach der Erfolg eines Autors wie Michel Houellebecq, der, wie Sie hervorheben, in Deutschland besonders populär ist? Macht diese Melancholie alle Hoffnung in die Menschheit zunichte?

M. M.: Mein Buch über Universalität nach dem Universalismus macht sich auf die Suche danach, wie die universalistischen Ideale – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – in der Literatur verhandelt werden. Dabei fange ich mit der Gleichheitsidee an, denn diese hat stets besondere Rückwirkungen gehabt. Das erste Kapitel lautet „Égalité – Melancholie weißer Männer über 40“. Das ist nur ein bisschen ironisch gemeint, und bezieht mich natürlich selbst mit ein. Die Gleichheit ist eine Herausforderung, weil mit zunehmenden Gleichheitsrechten – für die Frauen, für die ehemals kolonisierten Gesellschaften, und, das zeichnet sich am Horizont ab, auch für die Natur – über den Triumph hinaus komplexe Gefühlslagen entstehen.

In Europa führt dies einerseits zu einer Melancholie, die bei jenen entsteht, die im Bewusstsein der Schwere historischer Schuld heute Ideale festzuhalten suchen, von denen wir wissen, dass sie mit Blut besudelt wurden und kaum glaubhaft mehr zu verteidigen sind. Aber diese tragische Dimension verweist ja auf die verpassten Chancen, auf die Risse und Öffnungen der Geschichte, die man in eine Hoffnung malgré tout wenden kann, in eine Sensibilität für Ansätze, von denen aus sich die Geschichte anders entwickelt hat oder entwickeln könnte, die auf Solidarität verweisen. Literatur kann dies erfahrbar machen, und so lese ich die großartigen Werke etwa von Camille de Toledo oder Mathias Énard.

Michel Houellebecq dagegen gehört zu den Autoren, die mit den Verlust- und Geltungsängsten der Gegenwart spielen. Das hat mich anfangs auch neugierig gemacht, denn natürlich verflacht der wilde Kapitalismus die Vorstellung vom Leben. In Houellebecqs Welt aber ist in Gobineau’scher Manier alles dem Untergang geweiht. Es gibt keine Hoffnung, keine emanzipatorischen Ansätze, man muss im Grunde alles verwerfen und vor die Moderne zurückkehren, die Schuld an der Zerstörung aller Werte sei. Insbesondere die Auflösung der klassischen Geschlechterrollen führt zur Zerstörung der Ideale für Houellebecq. Ästhetisch hat er das in La carte et le territoire mit der Verabschiedung des literarischen Realismus gezeigt, der, indem er die Wirklichkeit zum Problem erhebt, Subjektivität und letztlich ein Stück Freiheit verteidigt. Houellebecq aber bespielt nun den naturalistischen Determinismus: Der Untergang des Westens folgt einer naturgesetzlichen Unausweichlichkeit. Damit bedient er die Angst- und Ressentimentpolitik der Rechtsradikalen. Und auf dieser Seite hat er sich ja auch öffentlich positioniert, sich für Trump ausgesprochen und laut Gavin Bowds Mémoires d’Outre-France (Éditions des Équateurs 2016) angeblich schon früh behauptet, der Rassemblement National sei keine rechtsextreme Partei. Und ja, Sie haben vollkommen Recht, in Deutschland ist das sehr lange verkannt worden. Da hat man Houellebecq für ein enfant terrible gehalten, der ein bisschen die Bildungsbürger nervt und über Analsex schreibt. Seit dem Interview mit Michel Onfray („Dieu vous entende“, Front Populaire, Sonderausgabe 3, November 2022) dürfte auch dem letzten klar geworden sein, dass das naiv ist.

E. D.: Sie beschreiben, dass die „Frankofonie“ lange als Ergebnis einer Beziehung zwischen einem Zentrum und seinen Rändern gedacht wurde – und immer noch so gedacht wird. Auf welche Weise und von wem wird diese Tradition heute infrage gestellt?

M. M.: Wie kein zweites Land hat sich Frankreich nicht nur den Idealen von 1789 verschrieben, sondern den Universalismus auch zur Staatsräson erhoben – im Sinne innerer Angleichung und Zentralisierung und im Sinne einer mission civilisatrice nach außen, die mit Frankreichs imperialer Mission seit der Revolution praktisch identisch ist. Wenn Hegel den europäischen Universalismus auf den Begriff bringt, so ist Paris sein Topos. „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ zu sein, wie das berühmte Diktum Walter Benjamins lautet, hieß auch, die Universalisierungsansprüche der europäischen Moderne modellbildend zu repräsentieren. Der immaterielle, rationalistische Kern dieses Anspruchs war die Vorstellung vom Französischen als langue de la clarté, als Sprache des klaren Denkens und der Vernunft, die zum Maß zivilisatorischen Fortschritts erhoben wurde. Mit ihrer Verbreitung hat dieser Anspruch den kolonialen Subjekten immer zugleich Gleichheit und Hierarchie, mögliche Integration in die Moderne und die Unmöglichkeit der Teilhabe jenseits des Zentrums vor Augen geführt. Diese enorme Spannung zwischen einem universalistischen Programm und seiner normativen Einengung ist heute der Grund dafür, dass es in der weltweiten frankofonen Sprechergemeinschaft ein ganz eigenes Bewusstsein für die Problematik der zerfließenden europäischen Geltung gibt. Auf Französisch zu schreiben, wirft immer die Frage nach einer Universalität auf, welche die Normierungsansprüche des Zentrums zu überschreiten vermag. Autorinnen und Autoren wie Léonora Miano und Kossi Efoui haben hier, wie ich in meinem Buch gezeigt habe, kluge und wichtige literarische Arbeit geleistet und ihr Dazwischen, ihre eigene existenzielle Rhythmik ins Französische eingeschrieben, ihren eigenen Gebrauch des Romanmodells erfunden.1 Sie werfen die spannende Frage nach der „Natur“ dieser neuen Universalität auf: Besteht diese wesentlich darin, zentrale Konzepte der Moderne wie Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit neu zu verkörpern und ihnen eine neue Legitimität zu verschaffen? Oder wird sie auch Ideale in sich aufnehmen, die nicht auf den europäischen Kulturraum zurückgehen, wie etwa Vorstellungen, die den Bezug zur Natur gänzlich anders markieren?

E. D.: Sie heben hervor, dass Sprachen durch die Herrschaft, die sie im kolonialen Kontext ausgeübt haben, noch immer aufgeladen sind. Wie zeigt sich das in der Literatur und wie kann Literatur eine Sprache von Unterdrückung befreien?

M. M.: Die Sprache ist die Materialität unseres Denkens. Die Frage der Sprache der Kolonisatoren ist daher seit der Dekolonialisierung ein Streitpunkt gewesen. Sie trägt die Erfahrung von Entzug und Gewalt in sich. Der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o hat daraus geschlussfolgert, man müsse auch den Geist entkolonialisieren, indem man in den nichteuropäischen Sprachen schreibe; er selbst hat daher auf Kikuyu geschrieben. Jeder Franzose kennt dagegen aber auch Kateb Yacines Formulierung vom Französischen als „butin de guerre“, als Beute des Algerienkriegs. Der Philosoph Jacques Derrida wiederum stellte fest, er habe nur eine Sprache, nämlich das Französische, und die sei nicht die seinige. Aus einer jüdischen Familie stammend wurde er mit der Aufhebung des Décret Crémieux durch die Vichy-Regierung im Jahr 1940, das den Juden in Algerien die französische Staatsbürgerschaft entzog, der französischen Kultur und Bildung beraubt. Kurzum, wie man sich also zu den Kolonialsprachen verhält, ist eine komplexe und schmerzhafte Frage.

Auf der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2017, auf der Frankreich Ehrengast war, hat Wajdi Mouawad an die Linie der Gewalt erinnert, die das Erbe des Französischen im Libanesischen Bürgerkrieg gezogen hat. Mouwads eigene Familie war an einem Massaker christlicher Falangisten an sunnitischen Dorfbewohnern beteiligt. Er habe noch immer den Geschmack von Blut auf der Zunge. Die Sprache, als Abstammung verstanden, ist der Ausschluss der anderen, ist Tod und Entmenschlichung. Mouawad erinnerte an die griechische Figur der Hekabe, der letzten Königin von Troja, die beim Anblick ihrer toten Tochter Polyxena die Sprache verliert und sich in einen Hund verwandelt. Ich werde nie vergessen, wie er in seiner Performance dann selbst anfing, auf der Bühne zu bellen, lange und heftig, bis ihm die Spucke herauslief, bis zur Entstellung des Gesichts, und wie es uns allen in den Adern gefror. Präsident Macron, der danach die Buchmesse eröffnen musste und der um ein Wort wohl eher nie verlegen ist, musste innehalten, bevor er etwas sagen konnte.

Das Unbehagen in der eigenen Sprache ist mir als Deutschem eine sehr geläufige Erfahrung. Mein Lehrer Jürgen Trabant hat vom Deutschen einmal als der „gebellten Sprache“ gesprochen. Damit ist das Schäferhundwerden gemeint, das entmenschlichende Geschrei und Handeln der SS-Schergen, das sich nicht mehr von der deutschen Sprache abschälen lässt. Und wann immer sich diese Sprache öffentlich bemerkbar macht – das hat sich seit meiner Kindheit eingebrannt – muss sie sich dessen bewusst sein.

E. D.: Worin besteht die besondere Bedeutung der Übersetzung, die ja einer der Schlüsselbegriffe Ihres Buchs ist?

M. M.: Wenn wir Texte, Wörter verschiedener Sprachen ineinander übersetzen, dann machen wir die Erfahrung, dass Aspekte nicht gänzlich übersetzbar sind: Das deutsche Heimat ist weder die patrie noch das chez-soi. Deshalb hat Barbara Cassin von den „intraduisibles“ – Unübersetzbarkeiten – gesprochen. Man kann daraus schlussfolgern, dass Sprachen unübersetzbar sind – und in der Folge auch Lebenswelten. Das stimmt aber eben nur zum Teil. Denn indem wir in der Übersetzung erkennen, dass es jeweils Aspekte gibt, die die Übersetzung erfüllt, und andere, die sie nicht erfüllt, nehmen wir bereits einen dritten Standpunkt im Dazwischen ein, der erst durch die Übersetzung entsteht und darauf verweist, dass es einen universellen Anteil gibt, den beide Seiten in sich tragen – hier eine emotionale Bindung an einen Ort.

Souleymane Bachir Diagne hat das auf die Verschiedenheit von Kulturen bezogen: Wenn wir das Universelle suchen, können wir es nicht mehr von einem Zentrum aus, „quasi von oben“ annehmen, sondern wir müssen es in der Übersetzung, in der Erfahrung des Durchlebens verschiedener Welten suchen. Die Übersetzungstheorie zeigt dabei, dass es dieses „universel latéral de la traduction“ gibt, dass uns etwas verbindet. Literatur ist, wie Kunst überhaupt, ein Medium, das diese Über-Setzung in eine andere Lebenswelt, ein anderes Schicksal möglich macht. Der große Philologie Erich Auerbach, der als Jude aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen musste, hat in seiner Lektüre von Virginia Woolf gezeigt, dass die Menschheit potenziell in jedem erzählten, noch so banal erscheinenden Augenblick aufscheinen kann, in dem ein menschliches Schicksal für uns erfahrbar wird.

E. D.: Die Idee einer vielfachen Zugehörigkeit oder ein Konzept wie Édouard Glissants „Tout-monde“ (All-Welt) sprechen sich für „fraternité“ aus und dafür, Menschen erzählend zueinander in Beziehung zu setzen. Liegt darin nicht ein Risiko für einen Relativismus und für eine Beliebigkeit, in der alles mit allem austauschbar wird – und die damit die Literatur selbst irgendwann auflöst?

M. M.: Glissant hat seine Kulturtheorie von der Erfahrung als Dichter her entfaltet. Die Poesie ist dasjenige Genre, in dem Welt praktisch ausschließlich aus der in Sprache gesetzten Subjektivität entsteht. Insofern ist diese Welt immer ein Stück weit unübersetzbar, undurchsichtig, opak. Daher formuliert Glissant das Recht darauf, dass komplexe Welterzählungen – Kulturen – nicht im Sinne einer flachen Globalisierung für alle anderen total transparent sein müssen. Dabei hat er zugleich betont, dass diese lebensweltlichen „Inseln§ aber immer nur im Verhältnis zu anderen Lebenswelten existieren, und dass Identität daher nicht heißt, mit sich selbst identisch zu sein, sondern zugleich immer in Relation – im doppelten Sinne des Berichts und der Beziehung des französischen Wortes – zu stehen. Glissant formuliert das vor allem in den 80er und 90er Jahren, in denen andere Denker, Samuel P. Huntington etwa, den Kulturkampf neu erfinden. Insofern ist Glissants Verdienst riesig, dahinter geht nichts zurück.

Das Problem am Relationalismus ist, dass das Erzählen kein intrinsisches Wahrheitszeichen hat, anders gesagt: Auf die Ko-Existenz von Erzählungen zu setzen, hebt nicht die Frage nach Legitimität und Universalität auf. Was machen wir mit Erzählungen von der Welt, die andere Erzählungen nicht anerkennen, diesen mit Gewalt begegnen? Wir müssen sie mit Gründen einhegen. Glissants archipelagische Theorie will der Gewalt entgegentreten, die durch die Annahme der Überlegenheit einer kulturellen Identität oder Gemeinschaft entsteht – jedoch ohne ihr Normativität entgegensetzen zu können. Glissant hat dieses Dilemma durchaus selbst gesehen, er schreibt in der Poétique de la relation darüber. Eine einfache Antwort hierauf gibt es nicht. Literatur kann aber das Verbindende stärken, indem sie das Opake transzendiert und, durch die Art, wie sie gemacht ist, auf etwas Allgemeines hin öffnet.

E. D.: In Frankreich steht die Frage nach dem Universalismus im Mittelpunkt sehr kontrovers geführter Debatten. Auf welche Weise stellt Sie sich bei Ihnen in Deutschland, in einem politischen Kontext, der vom Erfolg der AfD geprägt ist?

M. M.: Während Frankreich sich kulturell schon vorher, politisch aber spätestens mit der Revolution von 1789 als Nation universaliste konstituiert, entsteht das moderne Deutschland ja gerade in der Auseinandersetzung mit diesem französischen Anspruch. Die deutsche Kulturgeschichte ruft daher seit der Romantik nicht nur ein aufklärerisches Universalitätsdenken, sondern auch ein gegenüber dem universellen Zivilisationsdenken Widerständiges auf, welches das vermeintlich Eigene betont. Dieses letztere wird bereits bei Fichte, in seinen Reden an die deutsche Nation, hochgradig problematisch. Wenn der intellektuelle Gründer der AfD, Alexander Gauland, 2018 vor dem Brandenburger Tor schreit, Deutschland sei „stark, romantisch und frei“, dann spielt er genau auf diese extrem relativistische, nationalistische, chauvinistische Tradition an, die sich gegen eine weltoffene universalistische Tradition seit den Kriegen gegen Napoleon entfaltet hatte. Damit sind wir im Grunde beim Anfang dieses Gesprächs: Der Grund für mich, das Buch zu schreiben, in die frankofone Diskussion hineinzuhören, liegt vor allem auch darin, dem aufziehenden Rechtsextremismus etwas entgegenzustellen, nämlich das, was die Menschheit und Europa eint. Gleichzeitig bringt der Blick aus einer deutschsprachigen Wissenschaftstradition vielleicht auch eine spezifische Sensibilität für die Probleme eines „harten“ französischen Universalismus mit sich. Der französische Universalismus war eben staatspolitisch auch ein Partikularismus, der sich selbst universalisieren wollte. Wir müssen Universalität daher neu denken und politisch in eine neue multilaterale Politik umsetzen.

E. D.: Abschließend betrachtet: Muss der europäische Universalismus sterben, damit der wahre Universalismus leben kann?

M. M.: Das ist sehr drastisch formuliert. Der europäische Universalismus hat in der Tat bereits viel von seiner Legitimität verloren. Große Teile der Welt mögen an ihn – mit gutem Grund – nicht mehr so recht glauben, weil er sich selbst zu oft verraten, eben zu stark als zentralistisches Prinzip begründet hat. Aber erstens hat ja auch der europäische Universalismus sich dialektisch auf sich selbst gewandt, immer wieder, schon seit der Aufklärung, denken wir nur an Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung. Der Schriftsteller und Philosoph Camille de Toledo hat gezeigt, dass der universalistische Anspruch des Zentrums in Frankreich seit Rabelais eine eigene, subbersive Tradition der Literatur hervorgebracht hat, die er unter Bezug auf Glissant als „kreolisch“ bezeichnet. Das verweist auf das Potenzial des vermeintlich Randständigen, Minoren, Noch-nicht-Gültigen für ein Denken des Universellen. Daher liegt in der Zurückdrängung des Anspruchs Europas, das Universelle zu repräsentieren, auch eine Chance, Universalität neu zu gewinnen. Diese „Provinzialisierung“ Europas ist dabei ja wesentlich auch mit „Waffen der Kritik“ geschehen, wie der Historiker Dipesh Chakrabarty sagt, die aus einer europäischen Tradition kommen – er bezieht sich damit etwa auf den politischen Liberalismus und Marxismus. Wenn sich also die Kritik heute pluralisiert, dann ist es sicher nicht falsch, eine Musikalität für die Quellen auch des europäischen Universalismus zu behalten – seien sie monotheistischer, naturrechtlicher, kultureller oder politischer Natur – und mit der außereuropäischen Bewegung in Beziehung zu setzen. Der Gedanke der Menschheit bleibt unser stärkstes Argument gegen Rassismus, Chauvinismus und Nationalismus – und all dies floriert leider wieder.


1. Über seine Sprache und sein Schreiben im Kontext von Universalität denkt Kossi Efoui auch in diesem Interview in französischer Sprache nach, das auf dem Reparation Blog erschienen ist. Vor allem bezieht er sich dabei auf seinen Roman Une magie ordinaire – und blickt zurück auf seine Zeit als Artist in Residence am Käte Hamburger Kolleg CURE. Auf Deutsch ist Kossi Efoui in einem Gespräch mit Tilla Fuchs im Saarländischen Rundfunk zu hören.


Markus Messling: „Der europäische Universalismus hat viel von seiner Legitimität verloren.“ The Reparation Blog, 15. Juli 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/der-europaische-universalismus/.


© KHK CURE

Prof. Dr. Markus Messling

Markus Messling ist Professor für Romanische und Allgemeine Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Zuvor war er stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch – Deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften und Professor für Romanische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2009 bis 2014 hat er an der Universität Potsdam die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe (DFG) „Philologie und Rassismus im 19. Jh.“ geleitet, von 2019 bis 2024 war er Leiter des ERC Consolidator Grants „Minor Universality: Narrative World Productions After Western Universalism“. Er ist ordentliches Mitglied der Academia Europaea und hatte Gastprofessuren und Fellowships an der EHESS Paris, der University of Cambridge, der School of Advanced Study/University of London sowie an der Universität Kobe in Japan inne. Seit April 2024 leitet er zusammen mit Christiane Solte-Gresser das Käte Hamburger Kolleg für kulturelle Praktiken der Reparation (CURE), finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).