In den Augen des Rechts wird Literatur zum Prüfstein, wenn juristische Argumente an ihre aporetischen Grenzen geführt werden. So wie in Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1810), in der sich aristokratischer Nepotismus und der Aufstand eines einzelnen Subjekts in der Tradition frühbürgerlich-aufklärerischer Adelskritik gegenüberstehen. Die aporetische Schlussfolgerung – Hinrichtung, aber auch Restitution – wirft die Frage auf, wie hoch der Preis für staatsgefährdende Verrückungen sein kann oder sein muss. Kohlhaas hält seinen Rachefeldzug für rechtens, weil er nur auf diesem Weg die Anerkennung des Unrechts als Unrecht gewährleistet sieht. In seinem exzessiven Rechtsgefühl begehrt er nicht, geltendes Recht wiederherzustellen, er will vielmehr das Recht als Recht gänzlich neu stiften. Nicht Reparation oder Wiederherstellung ist das Ziel der Novelle, sondern die Demonstration von Irreparablem.
Das Projekt verfolgt das Ziel, die Universalität, Aktualität und Radikalität des Kohlhaas-Stoffes in seiner Rezeption in der Weltliteratur herauszuarbeiten. Versteht man eine Poetik des Irreparablen mit und nach Kleist als Teil eines produktiven Einspruchs gegen das „Versöhnungstheater“, so wirft der kritische Vergleich von mehrsprachigen Literaturen viele Fragen auf: Wie verhalten sich Reparation und Rechtsgefühl zueinander? Welche rechtsstaatlichen Aporien bringt der Kohlhaas-Stoff mit und nach Kleist zur Sprache? Wie artikuliert sich Recht und Rechtschaffenheit in einer Poetik des Irreparablen? Welche Aktualität birgt Kleists Novelle mit ihren weltliterarischen „Nachkommen“ für heutige Reparationsprozesse?
PROF. DR. ANDREA ALLERKAMP
CURRICULUM VITAE
Andrea Allerkamp ist Professorin für Westeuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina, wo sie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs Lebensformen + Lebenswissen war und den deutsch-französischen Master Philosophie und Kulturwissenschaften leitet. Sie ist im Fachbeirat des Kleist-Museums Frankfurt (Oder).
Vor 2011 lehrte sie an französischen Universitäten: als Professorin in Aix-Marseille und Poitiers, als Maître de Conférence in Toulouse. Mehrere Einladungen, zuletzt Gastprofessorin an der Université Paris I-Sorbonne und Fellow am Käte Hamburger Kolleg Morphomata an der Universität zu Köln.
Sie forscht zur Geschichte und Kritik der Ästhetik, den Wechselwirkungen zwischen Philosophie und Literatur, dem Verhältnis von Recht und Literatur sowie der Traum-Kritik. Sie ist Mitherausgeberin von Rhetorik: Ein internationales Jahrbuch, bis 2022 war sie auch im Herausgeberteam des Kleist-Jahrbuchs.