„Un charnier, ce n’est pas une idée. Un charnier, c’est du boulot.“
Taina Tervonen: Les Fossoyeuses. Paris: Marchialy, 2021, 3.

„‚Siehst du, diese passen ineinander.‘ Senem greift ein paar Wirbel heraus. ‚Schau mal. Die Knochen sprechen für sich.‘“ – beginnt die Journalistin Taina Tervonen ihren Bericht über die Suche nach den seit dem Ende des Kriegs in Bosnien und Herzegowina vermissten Toten. Die Sätze führen mitten hinein in die Arbeit einer forensischen Anthropologin und einer Ermittlerin, die Tervonen zwischen 2010 und 2016 begleitete: Senem Škuj und Darija Vujinović sind Mitarbeiterinnen der ICMP, der International Commission on Missing Persons. Senem arbeitet für das Identifikationszentrum in Krajina und ordnet in den Leichenhallen exhumierte menschliche Überreste aus Massengräbern zu, Darija Vujinović sucht Hinterbliebene auf und sammelt neben DNA-Proben auch deren Erinnerungen an vermisste Personen, um eine Datenbank anzulegen. Bald kommt für Senem Škuj noch die Verantwortung für das „Projekt N.N.“ hinzu, das sich der Cold Cases annimmt. Bis 2016 wurde nach einem Drittel der über 30.000 vermissten Personen des Bosnien-Krieges gesucht, nach heutigen Angaben sind es weiterhin 7.540 von insgesamt ca. 32.000 Vermissten.1

Projekt N.N.

Disiecta membra ist ein Ausdruck für „versprengte Glieder“ und meint Teile eines ursprünglich zusammenhängenden Ganzen, die auseinandergerissen wurden. Er beschreibt einen Zustand nach dem gewaltsamen oder natürlichen Zerfall einer wie auch immer zu denkenden Ordnung. Verwendet wird der Ausdruck in der Archäologie, im Buchwesen und in der Kunstgeschichte, um die fehlende Kohärenz eines Codex, eines Kunstwerks oder archäologischer Reste durch seine zerstreuten Teile zu beschreiben. Hin und wieder begegnet er im Kontext der Geschichtswissenschaft zur Beschreibung der Relation zwischen dem Singulären, den Einzelschicksalen und der Makrohistorie; in der forensischen Anthropologie, die sich um die Identifikation menschlicher Überreste bemüht, findet sich der Ausdruck meines Wissens nicht. Das verwundert, denn Taina Tervonens Buch behandelt den Umgang mit materiellen Überresten, deren Identifikation darüber erschwert wird, dass sie über Massengräber verteilt und vermengt wurden. Während der Fund vollständiger Körper auf ein „primäres“ Grab deutet, sind wirre Knochenhaufen ein Hinweis auf „sekundäre“ Gräber. Hier haben die Täter Leichenteile gezielt und kilometerweit verstreut, um Spuren zu vertuschen und die Identifizierung zu erschweren. Disiecta membra lässt sich auch auf die Unvollständigkeit von Kenntnissen und Daten übertragen, vielleicht auch auf die Unmöglichkeit, zu einem ganzen Bild des Krieges zu gelangen, das Tervonens Unterfangen wohl am besten beschreibt.

In Ton und Duktus ungewöhnlich, zeigt sich die Autorin von ihrem Gegenstand, der Exhumierung menschlicher Überreste aus Massengräbern in Bosnien und Herzegowina, affiziert. Nicht nur wird deutlich, dass, wo Sprache und Gewalt eine Verbindung eingehen, auch Ausdrücke verunglücken und Wörter ihren Sinn verändern – so wenn das Wort „Massengrab“ die Semantik des Wortes Grab nicht verdient, weil das „Grab“ nicht der Bestattung, sondern der Vertuschung von Kriegsverbrechen dient. Auch transportieren die Sätze den Geruch nach Verwesung, denn es ist der Gestank, der kurz nach dem Mord die hektischen Tätigkeiten rund um die Verbrechen dirigiert, der den Zeitsinn verwirrt und noch heute suggeriert, dass die Verbrechen gerade erst stattgefunden haben.2 Zu dieser Suggestion tragen auch die Effekte eines regelrechten Massengrab-Tourismus bei.

Tervonen wirft den Blick auf die materielle Seite des Krieges und beobachtet den Umgang mit seinen indexikalischen Hinterlassenschaften. Was zählt, ist die Farbe der Erde, die Art der „Gräber“, die Wanderung von Blutproben, die aus allen Teilen des Landes und dem Ausland ins Labor in Tuzla zur Identifikation geschickt werden, und die Aufbereitung von Knochenproben: „Ich sehe, wie sie jeden Wirbelknochen einzeln in die Hand nimmt und dann in der richtigen Reihenfolge wieder auf den Tisch legt und nebenbei jeden Knochen auf dem Skelettvordruck rot einfärbt“ (137). Dieses starke Bekenntnis zu „Knochen-“ und „Kleinarbeit“, das häufig zu einer Arbeit nicht mehr nur an, sondern mit Toten wird, ist wichtig, denn hiervon hängt ab, ob die Toten wieder zu Personen werden (84). Und eben hier kommt das Wort der Reparatur ins Spiel, das irritiert, weil es die Vorstellung weckt, man könne Menschen wie defekte Autos oder kaputte Ehen wiederherstellen. Was das Wort Reparatur zunächst plausibel macht, ist die Tatsache, dass hier zwei Frauen „mit den Händen arbeiten, […] Tote und Lebende zum Sprechen bringen […,] sich Zigaretten anstecken, sehr viele Zigaretten“ (166). Tervonen gelingt außerdem eine behutsame Übertragung, indem sie die über Jahre beobachtete Identifikationsarbeit an Überresten in ein Verhältnis zur Vorstellung von menschlicher Materie setzt und so das Bildfeld der Reparatur vom mechanischen auf das Verständnis von Lebendem verschiebt.

Allerdings, und das ist für den Zusammenhang äußerst wichtig, verlagern sich die Begrifflichkeiten zwischen dem französischen Original und der deutschen Übersetzung. Im Französischen lautet der Titel „Les Fossoyeuses“ – „Die Totengräberinnen“ –, in der deutschen Übersetzung hingegen „Die Reparatur der Lebenden“. Und es wird noch komplizierter, denn der deutsche Buchtitel lautet ähnlich wie die Überschrift eines zentralen Kapitels im französischen Original, wodurch hier gewissermaßen ein Teil zum Ganzen wird. Es geht aber genau um die Differenz im Ähnlichen, heißt doch das achte Kapitel „Réparer les humains“ (Die Menschen reparieren) und nicht wie im Deutschen „Die Reparatur der Lebenden“. Während also im Französischen die Betonung auf der Reparatur der Menschen liegt, unabhängig von ihrem Zustand als Lebende oder Tote, wird so die Arbeitsteilung von Senem (Dienst an den Toten) und Darija (Dienst an den Lebenden) gerade unterlaufen. Diese Vereindeutigung zugunsten der Lebenden reduziert mit anderen Worten die Dimensionen dieser arbeitsteiligen Prozesse, die zunächst einmal die Voraussetzungen für ein réparer bereitstellen und nicht schon selbst Reparatur bedeuten. Die Ausrichtung des Originals auf den Menschen im Plural fungiert als Klammer und bildet außerdem ein Gegengewicht zu den bei Tervonen aufscheinenden Verkürzungen, wenn etwa aus dem Trost, der das Auffinden und Identifizieren der Toten begleitet, allzu schnell eine reparative Praxis wird. Zu diesen unausgearbeiteten Zusammenhängen gehört auch die Idee einer Wiederherstellung von Würde, die die Toten in den Stand von Personen (zurück)versetzen können, wie sie häufig in Reportagen zu Kriegsverbrechen und so auch bei Tervonen zu finden ist:

„Die Lebenden gehören nicht zwei getrennten Welten an, sie sind alle Teil der menschlichen Gesellschaft. Mit jedem geborgenen Knochen, jedem gesammelten Blutstropfen stellen Senem und Darija in geduldiger Kleinarbeit das Band wieder her, das immer dann reißt, wenn die Toten ihrer Würde beraubt werden und den Lebenden der Abschied verwehrt bleibt, ohne den sie kaum weitermachen können. Solange sich Leute finden, die diese Arbeit auf sich nehmen, die das reparieren, was vernichtet und mit Füßen getreten wurde, bleibt etwas von unserer Menschlichkeit erhalten, unser aller Menschlichkeit“ (127).

Zwar folgen Impuls und Schreibbewegung Tervonens der Logik des Versprengten, doch werden ihre argumentativen Glieder mit ethischen Konzepten wie Würde (oder Trost) überdacht. Wie im Zitat werden so unterschiedliche Anliegen vermischt: die schwindende Legitimation und Anerkennung von forensischer und ermittelnder Arbeit mit der Reparatur, im Sinne einer Wiederherstellung ethisch-moralischer Maßstäbe, die durch das Morden in Kriegen Schaden genommen haben. Dass hier „reparieren“ und nicht „wiederherstellen“ steht, kehrt die materielle Seite der Arbeit hervor und betont die unwiderruflichen Schäden. Zugleich schwingt bei Tervonen im Verb réparer etwas Weiches, fast Zartes mit, das ungewöhnlich ist und an schwächere Behelfsformen wie Kitten, Basteln oder Flicken erinnert – ganz so, als würde hier etwas wider Erwarten aus dem Zusammenstellen versprengter Teile hervorgehen.

Wie passt das nun genau zum großen Anliegen der „Würde, derer die Toten beraubt werden“? Die Würde der Toten verdankt sich hier weniger einer begrifflichen Definition, sondern leitet sich aus der Praxis des Umgangs mit ihnen ab. Es sind eine verschlammte Levi’s-Jeans mit schwarzem Gürtel oder ein Ring am Finger einer mumifizierten Hand, die die Existenz der Toten als Tote bezeugen (83), und nicht zuletzt das, was der Blick durch die Kamera festhält: die Wände der Leichenhalle, die Rollwagenreihen, die Fotos der Vermissten, die Spuren von Salz und Rost – kurz: „die Schönheit all dessen, was sich hier vollzieht, was hier repariert wird“ (129). Schönheit hat hier offensichtlich mit der differenzierten Tätigkeit des Identifizierens und der behutsamen Beobachtung dieses Prozesses zu tun, die schließlich auch das Wort der Reparatur im Sinne einer hybriden Konstellation von lebender und toter Materie rechtfertigt.

Was sich im Kopf nach der Lektüre weiterdreht, ist ein ganzes Glossar einzelner Wörter: Zähne, Totenfabrik, tchetnik, Sana, Sekundärgräber, ryssä, N.N.-Fälle, Namenloser, Match für genetische Übereinstimmung, Linkshänder, Lehmanteil im Boden, Knochenproben, Gespenster, Genozid, Fehlidentifizierungen, Erzählhoheit, Erfassungsbogen, Erdfarbe, Cold Case, bone wizard, Balkandiät, Ausweisdokumente, ante mortem und ambiguous loss. Dazu gibt es Wörter wie „Witwe“ und „Waise“, aber keines für die Mutter, die in Abwesenheit ihres Sohnes lebt – „als könnte die Sprache selbst es nicht fassen“ (192).

Mona Körte


1. Mein Dank geht an Željana Tunić für den Hinweis und die Lektüre.
2. Taina Tervonen: Die Reparatur der Lebenden. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2025, S. 74. Weitere Zitate werden mit Seitenzahl ausgewiesen.


Mona Körte: „‘Disiecta membra’ oder: Wie riecht der Tod?.“ The Reparation Blog, 12. Juni 2025, https://cure.uni-saarland.de/mediathek/blog/disiecta-membra-oder-wie-riecht-der-tod/.


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Prof. Dr. Mona Körte

Mona Körte ist seit 2018 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Europäisch-Jüdische Literatur an der Universität Bielefeld. Zuvor leitete sie von 2016 bis 2018 mit Daniel Weidner den Programmbereich Weltliteratur am Leibniz-Zentrum für Literatur und Kulturforschung Berlin (ZfL). 2015 war sie Distinguished Max Kade Visiting Professor an der University of Virginia in Charlottesville und erhielt außerdem ein einjähriges Fellowship am Herbert D. Katz Center for Advanced Judaic Studies, University of Pennsylvania. Am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald war sie Fellow von 2013 bis 2014. Sie hatte Gast- und Vertretungsprofessuren an der Universität Konstanz, der Universität Graz und an der TU Chemnitz inne. Seit 2023 ist sie im Fachbeirat der Richard M. Meyer Stiftung, seit 2017 im wissenschaftlichen Beirat der Reihe „Exil-Kulturen“ (Stuttgart: Metzler).