Gespräch mit Edgar Reitz über Heimat

Am 9. März 2024 besuchen wir an einem strahlenden Vorfrühlingstag Edgar Reitz in seiner Schwabinger Altbauvilla. Es öffnet uns Salome Kammer. Beide haben soeben wichtige Preise gewonnen: er die Berlinale Kamera, sie den Musikpreis der Stadt München. Die Atmosphäre ist ausgesprochen herzlich. Durch das Musikzimmer gelangen wir, an einem Heimat-Filmplakat und »Clarissas« Cello vorbei, in einen Salon mit Blick auf den Garten; jenen Garten, von dem uns Edgar Reitz später erzählen wird, dass die Nachtigallen, die in seiner Film-Chronik eine so wichtige Rolle spielen, dort nicht wohnen, sondern nur auf der Durchreise sind …

CSG 

Sie sind, lieber Herr Reitz, einer der wichtigsten Protagonisten des Neuen Deutschen Films und mit Ihrer Heimat-Trilogie ein Chronist des Alltagslebens, alltäglicher Geschichte in Deutschland, vom Ende des Ersten Weltkriegs über den Faschismus bis zum Ende der deutschen Zweistaatlichkeit 1990.

FH

In dieser Geschichte ist mit der Heimat auch das Wohnen problematisch geworden. Als Problem zieht es sich durch die Kritische Theorie und auch schon durch die Künste der restaurativen Adenauerzeit.

MM

Und eben auch durch Ihre Chronik, wir haben Heimat nochmal durchgeschaut. Es geht da natürlich in vielfältiger Weise zunächst um ein dörfliches Wohnen, als ein Weltempfinden, aber auch ganz konkret: Die Wohnküche ist wie das Zentrum des Lebens und des Films.

ER

Auch in der Mittelklasse bürgerlicher Wohnungen ist ein sogenanntes »Wohnzimmer« das Zentrum – auch wir haben eins. Und immer, wenn wir uns dorthin begeben, fragen wir uns im Scherz: »Gehen wir wohnen?« – »Was machen wir heute Abend? Gehen wir wohnen?«, im eigenen Haus, in dem dafür bestimmten Zimmer, in dem dann alle anderen Tätigkeiten wegfallen.
Üblicherweise ist »Wohnen« das Ödeste, was man überhaupt tun kann. Denn sobald man sich irgendetwas Konkretem widmet, z. B. Fernsehen, ist das ja schon nicht mehr Wohnen. Essen ist auch schon nicht mehr Wohnen.

CSG

Lesen auch nicht?

ER

Lesen auch nicht.

CSG

Ein Konversationszimmer, ein Salon, wohnt man da?

ER

Wenn der Aufenthalt unverbindlich bleibt, kann es vielleicht noch als Wohnen gelten.

FH

Zu wohnen ist also gar keine einfache Sache, Wohnlichkeit alles andere als ein Ideal. Wenn ich an die Wohnzimmer meiner bürgerlichen Familie zurückdenke, dann ist es so: Sie waren repräsentativ, aber ungenutzt.

CSG

Man war da eigentlich nur an Weihnachten.

ER

Genau. Kennen sie die Fotografin Herlinde Koelbl? Sie hat 1980 mit Manfred Sack den Fotoband Das deutsche Wohnzimmer herausgegeben. Mit einem Nachwort von Alexander Mitscherlich. Koelbl hat für dieses Buch Wohnzimmer prominenter und weniger prominenter Bürger aufgenommen. Es ist wirklich lohnend. Hier stoßen Sie auf alle Absonderlichkeiten, die man so unter Wohnen verstehen kann.

MM

Sind diese Absonderlichkeiten bürgerlich?

ER

Sie sind jedenfalls von einem bürgerlichen Bewusstsein getragen. Man zieht sich sozusagen aus der Öffentlichkeit zurück und will sich in jeder Hinsicht Kredit verschaffen, auch was den intellektuellen Anspruch angeht. Dort, wo man sich anderen zeigt, achtet man vielleicht noch auf die Gebrauchsgegenstände oder lässt Geschmackskriterien gelten. Aber beim Wohnen fällt das alles flach. Wohnen mit geschmacklichem Anspruch ist schon nicht mehr entspannend.

CSG

Unsere Idee bei Rhinozeros ist immer, als Thema ein Verb zu wählen, das auf eine Handlung verweist, das also zum Tun her- ausfordert und der Gesellschaft, wie sie ist, etwas entgegensetzt. Beim Thema Wohnen mussten wir uns die Frage stellen, ob das überhaupt eine Tätigkeit ist. Wohnen ist ja eigentlich etwas ganz Passives: Man setzt sich etwas aus – wie kann man da überhaupt zur Tat gelangen?

ER

Aber es macht auch Spaß, das Wohnen als aktives Verb zu betrachten – was tut man, wenn man wohnt?

FH

Was würden Sie sagen? Wir haben ja schon viele Handlungen ausgeschlossen aus dieser merkwürdigen Sphäre der Unverbindlichkeit.

ER

Das große Problem ist heute das Verhältnis zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben. Jeder Mensch hat beide Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach Privatheit, das bedeutet Unversehrtheit einer bestimmten Sphäre, die er selbst gestalten kann, wo niemand sich einmischt und die vor allem auch dem Blick der Öffentlichkeit entzogen ist – wo man nicht gesehen wird. Das ist das eigentlich private Gefühl. Das stammt, meines Erachtens, entwicklungsgeschichtlich noch aus der Zeit, als die Menschen Höhlenbewohner waren. In den Höhlen der Urhorden war wohl alles, was sich da abspielte, sehr privat. Es gab in der Höhle selbst keine Öffentlichkeit, weil es auch noch dunkel war. Dann wissen wir aber natürlich, dass wir gesellschaftliche Wesen sind. Dass wir sozusagen eine Öffentlichkeit suchen, eine gesellschaftliche Berührung in einem Raum, der niemandem oder allen gehört. In einem Raum, in dem es kein privates Eigentum, sondern nur ein kollektives Eigentum gibt – wenn es überhaupt Eigentum gibt. Und zwischen diesen beiden Polen, privat und öffentlich, schwanken wir als Lebewesen hin und her. Wenn wir nur öffentich agieren, werden wir verrückt oder krank oder verleben uns irgendwie; aber wenn wir nur privat leben, ebenfalls. Das Private ist letztendlich eine Zwangslage, sobald man sie absolut nimmt. Und das Öffentliche ist eine Strafe, wenn man es absolut nimmt.

Lesen Sie das vollständige Interview mit Edgar Reitz in: Rhinozeros. Europa im Übergang 4 | wohnen, erhältlich bei Matthes & Seitz Berlin.


Edgar Reitz

Edgar Reitz geboren 1931, arbeitet als Autor und Filmregisseur in München und war Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zusammen mit Alexander Kluge, mit dem er auch mehrere Autorenfilme gedreht hat, gründete er das Institut für Filmgestaltung. Er ist einer der Unterzeichner des Oberhausener Manifests (1962), das radikal für eine Erneuerung des deutschen Films eintrat. Seitdem gilt er als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films. Er hat zahlreiche Spielfilme gedreht, etwa Mahlzeiten (1966/67), Die Reise nach Wien (1973), Stunde Null (1976/77) oder Der Schneider von Ulm (1978). Sein Werk umfasst auch ausgesprochen experimentelle Arbeiten wie Kommunikation (1959) und Fußnoten (1967) sowie Dokumentarfilme. Mit Preisen ausgezeichnet wurden u. a. die Dokumentationen Kommunikation (1959), Baumwolle (1960) und In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (zusammen mit Alexander Kluge 1974). Zudem tritt Reitz mit mehreren Publikationen auch als Filmtheoretiker, Erzähler und Lyriker in Erscheinung. Weltberühmt wurde er mit seiner dreiteiligen Film-Chronik Heimat.

Dr. Franck Hofmann

Franck Hofmann, 1971 geboren, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben (Kulturgeschichte) in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes. Er ist Senior Researcher im ERC Minor Universality und Co-Sprecher der internationalen DFJW-Forschungsgruppe Penser la Méditerranée ensemble. Transmediterrane Jugendpolitik.

Prof. Dr. Markus Messling

Markus Messling ist Professor für Romanische und Allgemeine Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Zuvor war er stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch – Deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften und Professor für Romanische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2009 bis 2014 hat er an der Universität Potsdam die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe (DFG) „Philologie und Rassismus im 19. Jh.“ geleitet, seit 2019 ist er Leiter des ERC Consolidator Grants „Minor Universality: Narrative World Productions After Western Universalism“. Er ist ordentliches Mitglied der Academia Europaea und hatte Gastprofessuren und Fellowships an der EHESS Paris, der University of Cambridge, der School of Advanced Study/University of London sowie an der Universität Kobe in Japan inne. Seit April 2024 leitet er zusammen mit Christiane Solte-Gresser das Käte Hamburger Kolleg für kulturelle Praktiken der Reparation (CURE), finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

 

Prof. Dr. Christiane Solte-Gresser

Christiane Solte-Gresser ist seit 2009 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Dort leitete sie von 2015 bis 2024 das von der DFG geförderte Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ (GRK 2021). Sie hatte Gast- und Vertretungsprofessuren an der Universität Aix-Marseille und der Goethe-Universität Frankfurt am Main inne. Seit 2023 ist sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL). Sie ist Mitglied im Direktorium von LOGOS, der internationalen Doktorandenschule der Universität der Großregion, und gibt mehrere Zeitschriften und Buchreihen mit heraus, darunter das Jahrbuch Komparatistik, Rhinozeros: Europa im Übergang, Traum – Wissen – Erzählen und die Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur-und Kulturwissenschaft. Seit April 2024 leitet sie zusammen mit Markus Messling das Käte Hamburger Kolleg für kulturelle Praktiken der Reparation (CURE), finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).